Aus Sicht des Jugendpsychiaters Andreas Karwautz ist Heidi Klums Show untragbar. Die Abwertung, mit der sie die Mädchen aburteilt, hinterlässt bei Betroffenen und Zuschauerinnen Spuren. Vor allem in der Pubertät ist man sehr vulnerabel, die Psyche wird von vielen äußeren Faktoren geprägt.

Foto: GettyImages

Andreas Karwautz ist Kinder- und Jugendpsychiater an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Medizinischen Universität Wien und leitet die Spezialambulanzen für Essstörungen.

Foto: Felicitas Matern

STANDARD: Essen ist ein menschliches Grundbedürfnis, doch gerade bei Jugendlichen kann es auch zu einem Problem werden. Wie erklären Sie sich das?

Karwautz: Essen ist zwar ein Grundbedürfnis, rein gesellschaftlich betrachtet aber ein hochkomplexes Feld. Das zeigt sich am sehr breiten Spektrum der Essstörungen, zu denen strenggenommen ja auch das krankhafte Übergewicht zu zählen ist. Wir hier an der Esstörungseinheit der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie behandeln Magersucht, Bulimie und Binge-Eating-Syndrom als schwere Körpergewichtsstörungen.

STANDARD: Nichts essen, übermäßig viel essen und Heißhungerattacken: Was verbindet diese Krankheitsbilder?

Karwautz: Wir sehen, dass diese Erkrankungen gemeinsame neurobiologische Ursachen haben, also mit genetisch bedingt sind. Konkret sind die Neurotransmitter betroffen, allen voran Dopamin und Serotonin. Diese sind maßgeblich für Hunger und Sättigung verantwortlich. Das können wir sogar mittels bildgebender Verfahren wie der Magnetresonanztomografie im Gehirn sichtbar machen.

STANDARD: Wie viele Betroffene gibt es eigentlich?

Karwautz: Ausgehend von Kindern zwischen zwölf und 18 Jahren sind circa vier bis fünf Prozent aller Jugendlichen von Essstörungen betroffen, davon ein Prozent von Magersucht, also der Anorexie. 60 Prozent des Risikos für diese Krankheit sind genetischen Ursprungs, das zeigen die maßgeblichen Studien der letzten Jahre. Es ist also eine schwere psychische Erkrankung, die mit ein bisschen gut zureden, wie manche das meinen, sicherlich nicht weggeht.

STANDARD: Was ist state of the art in der Behandlung von Essstörungen?

Karwautz: Wir behandeln nach einem bio-psycho-sozialen Ansatz und sehen die Erkrankung nicht nur in ihrer genetischen Dimension, sondern die Patientinnen auch in ihrem sozialen Umfeld und in ihrer Lebensgeschichte. Essstörungen gehen meistens mit einer Reihe anderer psychischer Probleme einher, mit verschiedenen Zwangsstörungen, mit Depressionen oder Panikattacken. Wir behandeln also bei den Betroffenen meistens mehrere Erkrankungen, das ist auch eine große Herausforderung.

STANDARD: Psychiatrische Erkrankungen sind immer ziemlich komplex, gibt es trotzdem gemeinsame Merkmale?

Karwautz: Ja, das Gefühl von Selbstwert ist bei fast allen Patientinnen mit Essstörungen beeinträchtigt. Man kann also sagen: ohne Selbstwertproblem keine Essstörung. Selbstwert entwickelt sich von Kindesbeinen an. Er wird durch viele äußere Faktoren beeinflusst, im extremsten Fall durch Missbrauch oder Misshandlungen, die sich eindeutig als Risikofaktoren für die Entwicklung von Anorexie herausgestellt haben. Viele unserer Patientinnen sind sehr perfektionistisch veranlagt.

STANDARD: Welche Rolle spielen die Medien?

Karwautz: Meine liebste Feindin ist Heidi Klum und ihre Show, die ich aus jugendpsychiatrischer Sicht als untragbar betrachte. Diese Frau beurteilt Jugendliche, die in diesem Alter ganz grundsätzlich verwundbar und unsicher sind, auf eine geradezu infame Weise, denn ihr Urteil kommt in den meisten Fällen einer totalen Abwertung gleich. Es ist unglaublich, dass sich die Kandidatinnen dieser psychischen Tortur aussetzen, und noch unglaublicher, dass man sich das ansieht. Aus jugendpsychiatrischer Sicht sind solche Shows absolut verantwortungslos.

STANDARD: Warum genau?

Karwautz: Weil durch das Fernsehen solche rein auf Äußerlichkeiten basierenden Vergleiche plötzlich ein valider Maßstab werden und jegliche Form von inneren Werten auf der Strecke bleibt. Der Preis ist hoch. Viele Anorexie-Patientinnen denken: "Okay, ich muss einfach nur schlank werden, dann bewundern mich alle, und meine Probleme sind gelöst." Nach diesem "Like"-Prinzip funktionieren ja auch die sozialen Medien. Mit der wirklichen Welt hat das wenig zu tun. Echte soziale Beziehungen und Anerkennung sind komplexer als ein Klick auf einen Button.

STANDARD: Wann genau bricht die Anorexie eigentlich aus?

Karwautz: In der emotional extrem schwierigen Zeit der Pubertät, also genau dann, wenn Selbstwert auch in der Persönlichkeitsentwicklung eine Riesenrolle spielt und sich in der Persönlichkeit verankert. Die meisten Mädchen mit Anorexie erkranken zwischen dem 14. und 20. Lebensjahr. Je früher sie in Behandlung kommen, umso besser die Therapieerfolge, zeigen unsere Studien. Das große Problem bei Magersucht: Die Patientinnen selbst fühlen sich nicht krank, meistens sind es die Eltern, Verwandte, die Schulpsychologinnen oder Freunde, die sich an uns wenden und fragen, was sie machen sollen.

STANDARD: Wer sich nicht krank fühlt, will sich doch auch nicht behandeln lassen, oder?

Karwautz: Genau. Wir müssen es erst einmal schaffen, die Mädchen davon zu überzeugen, welche Funktion diese Erkrankung in ihrem Leben spielt und wie viele negative Konsequenzen die Krankheit haben kann. In jedem Fall ist die Rolle der Eltern entscheidend. Wir empfehlen, dass sie im Verdachtsfall auf einem Arztbesuch bestehen. Eine psychiatrische Erkrankung geht nicht so einfach wieder weg. Je früher wir behandeln, umso besser.

STANDARD: Was können die Hürden sein?

Karwautz: Die wenigsten Patientinnen kommen freiwillig und haben ein Problembewusstsein, im Gegenteil. Ihnen Körperbewusstsein beizubringen ist integrativer Bestandteil in der Therapie. Warum essen wir? Was passiert, wenn wir das nicht machen? Wie funktioniert der Körper? Die meisten haben keine Ahnung. Wir als Jugendpsychiater arbeiten nicht selten gegen Internetforen, in denen sich die Patientinnen treffen und ihre Erkrankung als Lifestyle zelebrieren.

STANDARD: Wie genau?

Karwautz: Es gibt eine ganze Reihe von Pro-Anorexie- oder Pro-Bulimie-Foren, auf denen sich die Patientinnen Bestätigung von anderen Userinnen holen. Oder Rat, wie man Ärzte austricksen kann. Da vergleichen sich von Anorexie betroffene Mädchen untereinander, erstellen Ratings mit absurden Körperwerten und geben einander abstruse und in jedem Fall schädliche Tipps. Erst wenn sich bei den Patientinnen ein Problembewusstsein entwickelt hat, können sie erkennen, wie schädlich diese Foren für sie sind.

STANDARD: Wie genau sieht eine Behandlung aus?

Karwautz: Wir versuchen den Patientinnen das Essen wieder beizubringen und sie dabei, so gut es geht, ambulant zu versorgen. Nur wer wirklich körperlich und seelisch sehr beeinträchtigt ist, wird stationär aufgenommen. Mit einem Package aus Aufklärung, Wissensvermittlung, Nahrungsrestitution, Psychotherapie und intensiver Unterstützung der Patientinnen und ihrer Eltern versuchen wir zu stabilisieren.

STANDARD: Gibt es neue Ansätze?

Karwautz: Je hochspezialisierter eine Therapie ist, umso erfolgreicher, das sehen wir aktuell im Rahmen der Mantra-Studie. Dieses in Großbritannien entwickelte Konzept geht mit verschiedenen Modulen sehr spezifisch auf die Magersucht ein. Es ist eine Mischung aus kognitiver Verhaltenstherapie, Wissensvermittlung, Beziehungsarbeit und Übungshandeln. Die Therapie dauert neun Monate, wir haben sogar noch freie Plätze.

STANDARD: Eine psychiatrische Erkrankung ist sehr oft ein massives Problem vor allem für die Familie. Wie gehen Sie damit um?

Karwautz: Wir hatten an der Klinik immer wieder allgemeine Elterngruppen. Das Problem war aber, dass Eltern von Kindern mit verschiedenen psychischen Erkrankungen zusammengefasst und beraten wurden. In einer Studie, die gerade abgeschlossen wurde, hat sich gezeigt, dass es sinnvoll ist, sehr spezifisch zu beraten. Es macht Sinn, Eltern von magersüchtigen Jugendlichen in eigenen Gruppen zu betreuen. Denn der Kurs, der sowohl per Internet als auch in Seminaren angeboten wird, gibt Verhaltensanleitungen. Er ist zudem kostenlos. Wir sehen, dass es gut funktioniert und auch gut angenommen wird.

STANDARD: Inwiefern?

Karwautz: Man muss viel über die Erkrankung wissen, um richtig reagieren zu können. Es bringt zum Beispiel überhaupt nichts, wenn Eltern Druck aufbauen. Aber es gibt ja trotzdem die große Sorge, wenn ein Kind immer dünner wird, Essen verweigert, dass es eventuell sogar stirbt. Wir trainieren also mit den Eltern in Rollenspielen, wie sie mit dieser Essensverweigerung umgehen lernen können. Anorexie ist für eine Familie eine extrem belastende Situation. Da zerbrechen sogar Ehen, wenn die Eltern nicht auch auf sich selbst zu achten lernen. Dieses Elternprogramm namens Succeat umfasst acht Einheiten und ist eine zusätzliche Hilfestellung in einem Therapiekonzept, das auch das familiäre Umfeld stark einzubeziehen versucht.

STANDARD: Gibt es auch an der biologischen Front neue wissenschaftliche Erkenntnisse?

Karwautz: Ein für uns sehr aufregendes Projekt ist eine Studie zum Mikrobiom bei Anorexie. Dass die Zusammensetzung der Bakterien im Darm eine Auswirkung auf das Gehirn hat, ist eine bahnbrechende Erkenntnis der letzten Jahre. Im Rahmen eines EU-Projekts schauen wir uns jetzt konkret die Anorexie an. Wir bieten unseren stationären Anorexie-Patientinnen Probiotika und beobachten die Wirkung auf die klinische Symptomatik, auf das allgemeine Wohlbefinden und die Effekte im Gehirn. Die Darmflora spielt bei Depression und Angst eine wichtige Rolle, und gerade diese Begleiterkrankungen sind ein Teil von Anorexie. Insofern sind wir sehr gespannt und stolz, da weltweit ganz vorne in der Forschung mit dabei zu sein.

STANDARD: Wie sieht es mit den Erfolgsraten bei der Anorexie-Behandlung aus?

Karwautz: 80 Prozent der Patientinnen schaffen es durch die Behandlung, da wieder rauszukommen. Bei 20 Prozent wird die psychische Störung langdauernd, also chronisch. Wir arbeiten daran, diese 20 Prozent weiter zu reduzieren, unsere Therapien noch spezifischer zu machen. Die, die sich in Behandlung begeben, haben sehr gute Chancen. Es ist uns aber auch ein Anliegen, die Dunkelziffer, also Patientinnen mit Anorexie, die nie in medizinische Behandlung kommen, zu reduzieren. Die heutigen Methoden zu Prävention, Früherkennung und Behandlung sind sehr vielversprechend. (Karin Pollack, 15.5.2019)