Baileys Ikonen und Tragöden der Pop- und Zeitgeschichte präsentiert der Designer Marc Newson auf dem Altar des Analogen.

Foto: David Bailey / Taschen-Verlag

Der Legende nach soll er das Vorbild der Hauptfigur von Michelangelo Antonionis cineastischem Meisterwerk Blow-up, oszillierend zwischen sphärisch-psychedelischer Entrücktheit und realistischer Präsenz, aus dem Jahr 1966 gewesen sein.

Nie bestätigt, aber auch nie dementiert – allein das Gerücht hat wesentlich zum Mythos von David Bailey beigetragen. Entsprach dieses von Antonioni gezeichnete Bild des zugleich erratisch-sensiblen wie auch manisch-extravertierten Fotografen genau dem Nimbus der Swinging Sixties, einer Ära des Aufbruchs in eine neue Welt mittels Abkehr von tradierten Lebensformen und Gesellschaftsnormen.

Revolutionär und erotoman

Als Archetypus eines gesellschaftlich-revolutionären, gleichsam aber auch erotomanen Geistes entsprach David Hemmings alias Bailey exakt der Idee dessen, was bis heute den Topos jener Dekade ausmacht. Das sowohl bewusste als auch unbewusste, emotionale Ausloten und Überschreiten von Grenzen zur obersten Maxime erhebend und auslebend, schuf er Ikonen der Coolness, die durch Gefühl und Leidenschaft, Verve und Empathie geprägt waren – bis dahin unbekannt.

Der 1938 im Londoner East End Geborene dokumentierte den Lifestyle zwischen Pop-Art, Street-Credibility und spiritueller Energie. Befreundet mit Andy Warhol, Damian Hirst, Mick Jagger, David Bowie, Michael Caine, Brian Epstein et alii, inhalierte er schon früh so etwas wie Hipness, Exzess und Coolness, war Teil der Entourage der Moderne und holte alle – angetrieben von "quick fame, quick money, quick sex!" – vor die Linse.

Ikonen und Supermodels

Seine Perspektiven und reduzierten Porträts, entsprechend der Dualität von Hedonismus und Revolutionsgeist, prägten ganze Generationen. Mit seinen Fotoserien schuf er, in bewusster Abkehr von "eleganten Mannequins" mit Jean Shrimpton, Twiggy und Penelope Tree erste "Supermodels".

Ikonen wie Kate Moss zählen zu seinen Entdeckungen und Freunden. Gelebte Avantgarde, gelebte Pop-Art. Gelebtes Anti-Establishment – bis zu jenem Zeitpunkt, an dem der Zeitgeist die Avantgarde zum Mainstream vereinnahmend auffrisst und wieder ausspuckt. Später sollte sich auch die "andere Seite" der Society darin gefallen, von ihm porträtiert zu werden. Darunter auch die die Eiserne Lady Margaret Thatcher und Her Majesty Queen Elizabeth. Sic!

Die Essenz dieses fotografischen Who's who aus sechs Jahrzehnten hat David Bailey nun selbst ausgewählt – und Verleger Benedikt Taschen ist es zu danken, dass dieses fünfzehn Kilogramm schwere, 50×70 Zentimeter große Exemplar einen Platz im Heiligenschrein des Analogen erhält. Geliefert wird es adäquat mit einem eigens von Marc Newson gestalteten Altar. Zelebriert können mit dem auch in vier wählbaren limitierten Art-Editionen mit signiertem Print erhältlichen sogenannten "Sumo", den wohl nur im Training befindliche Ringer stemmen können, heilige – und jede Menge unheilige Messen.

Gewagte Perspektiven

Sakrale Aura und den diskreten Charme der Bourgeoisie verströmen sowohl die historischen Zeitdokumente als auch die Exemplare wunderbarer Ästhetik expliziter Nacktheit und Natürlichkeit. Der Journalist Francis Wyndham, ein Chronist der Swinging Sixties, beschrieb Baileys längst vergriffenen Bucherstling Box of Pin-Ups mit den Worten "the hottest shit".

Neben der Fotografie arbeitete Bailey auch in den Bereichen Werbung, Film, Malerei und Bildhauerei. Von Pop-Art inspiriert, verlieh er seinen Arbeiten durch gewagte Perspektiven ein Gefühl von Bewegung und Unmittelbarkeit. Neben den Säulenheiligen der 60er begegnet man auch Salvador Dalí, Nelson Mandela, Francis Bacon, Zaha Hadid, Nicholson. Sympathisch macht den Band, dass auch Freunde Platz fanden und so manch private Göttin des Glücks.

Eine Melange aus britischem Understatement, Ironie und Präpotenz eines weisen wie (zu Recht) leicht arroganten Routiniers, gepaart mit typisch britischem Humor blitzt durch, wenn man Bailey Fragen über die Auswahl an Motiven und Perspektiven stellt. Seine ultimative, mit breitem Grinsen und leisem Augenzwinkern freundlich, aber bestimmt gegebene Antwort auf ein löcherndes "Why?" lautet: "Why not?" Ja, warum nicht? Das präzise, perfekte Ergebnis gibt ihm recht. Indeed! (Gregor Auenhammer, 11.5.2019)