Einschwingen auf den Takt der Bindung: Wenn Mutter und Kind in intensivem Kontakt sind, gleicht sich das Neuronenfeuer an. Das zeigen EEG-Messungen.
Foto: Stefanie Peykarjou

Gellende Schreie, wildes Toben, bittere Tränen. Wenn ein Baby seinen Gefühlen Ausdruck verleiht, kann das wehtun – und zwar nicht nur in den Ohren. Instinktiv reagieren wir, um das Kind wieder ins Gleichgewicht zu bringen: Wir nehmen es auf den Arm, schaukeln es, singen, sagen beruhigende "Sch"-Laute vor uns her.

"Über den Körperkontakt spürt das Kind den Herzschlag. Das Streicheln, Sprechen, Wiegen und Tragen erzeugt Rhythmen, die den Stress des Kindes herunterregulieren und es beruhigen", sagt die Entwicklungspsychologin Stefanie Höhl von der Uni Wien. "Diese Rhythmen ermöglichen es, dass sich Bezugsperson und Kind aufeinander einstellen und eine Bindung entsteht. Sie machen die Welt aber auch vorhersagbarer für das Baby." Der Takt der direkten Umgebung ist eine erste Orientierungshilfe, mit der Neugeborene lernen, die überwältigenden Fülle an auf sie einprasselnden Sinneseindrücken einzuordnen.

Das Aufeinandereinpendeln zweier Personen zeigt sich nicht nur im Verhalten, auch Herzraten und Hormonspiegel gleichen sich an. Was sich dabei im Gehirn abspielt, ist bisher jedoch kaum erforscht – besonders wenn es sich um Babys und Kleinkinder handelt. "Wir haben in unseren Studien gesehen, dass sich auch die Rhythmen der Gehirnströme aneinander angleichen, wenn sich eine Mutter mit ihrem Kind beschäftigt", sagt Stefanie Höhl. "Beide sind sozusagen auf einer Wellenlänge, ticken im selben Rhythmus. Das erhöht offenbar auch die Aufnahmebereitschaft für neue Informationen."

Synchrone Gehirnströme

Das experimentelle Säuglings- und Kleinkindlabor an der Universität Wien ist eines von wenigen Forschungslabors weltweit, die dieses Phänomen intensiv untersuchen. Es gibt einen Wickeltisch, einen bunten Teppich, Spielzeug für jedes Alter, dazu eine Auswahl von winzigen bis großen EEG-Häubchen, Kameras und Computer. Hier versuchen Höhl und ihr Team herauszufinden, inwieweit die Synchronisierung der Gehirnaktivität das Lernen in der frühen Entwicklung von Kindern beeinflusst.

"Wir wollen verstehen, wie Kinder andere Menschen wahrnehmen und von ihnen lernen", sagt Höhl. Dazu spielen Kinder mit ihren Eltern im Labor oder lösen gemeinsam Aufgaben, während ihre Blickbewegungen und ihre Gehirnströme live aufgezeichnet werden. Was eine ziemliche Herausforderung ist, da die kleinen Studienteilnehmer nicht gerade für ihr Sitzfleisch bekannt sind – zu viel Bewegung kann allerdings die Messungen beeinträchtigen.

Die Ergebnisse sind faszinierend: In einer Studie schauten sich neun Monate alte Säuglinge gemeinsam mit einer Versuchsleiterin Bilder von Spielzeugen auf einem Computermonitor an. Wenn die Versuchsleiterin direkten Blickkontakt mit dem Kind aufnahm, bevor das Spielzeug auf dem Bildschirm erschien, glich sich nicht nur der Rhythmus der Neuronenströme im Gehirn an, die Kinder reagierten auch mit deutlich höherer Aufmerksamkeit auf die Bilder, als wenn beide einfach gemeinsam die Gegenstände ohne spezielle Zuwendung ansahen. Derzeit wird getestet, ob der alleinige Körperkontakt für ein Einschwingen der Gehirnströme reicht, wenn das Baby also etwa auf dem Schoß der Mutter sitzt.

Das Tangram der Bindung

In einem anderen Experiment mussten Fünfjährige mit ihren Müttern Tangrampuzzles lösen. "Je mehr beide spontan aufeinander eingingen, desto mehr passten sich die Gehirnströme aneinander an. Und: Je synchroner die neuronalen Rhythmen waren, desto schneller konnten sie die Rätsel lösen. Außerdem waren jene Kinder, die stärker von der Mutter eingebunden wurden, von sich aus aktiver bei der Lösung der Aufgaben", fasst Höhl zusammen. Momentan werden die Daten einer Vergleichsstudie mit Vätern ausgewertet. Ob sich dabei ähnliche Muster wie bei den Müttern abzeichnen, ist noch offen.

Längsschnittstudien, bei denen Mütter und ihre Babys in verschiedenen Altersstufen beobachtet werden, sollen außerdem darüber Auskunft geben, wie die frühkindliche Abstimmung die individuelle Entwicklung des Kindes beeinflusst. "Gerade in den ersten Lebensmonaten hängen der Aufbau einer stabilen Bindung mit den Bezugspersonen, die emotionale Entwicklung und das frühe Lernen eng zusammen", sagt Höhl. "Diese Bereiche wurden bisher meist getrennt betrachtet."

Dabei scheint es, dass das bewusste Eingehen und der schlichte Körperkontakt durch Bezugspersonen Kleinkindern nicht nur hilft, ihre Emotionen zu regulieren, sondern auch das Erlernen von Fähigkeiten erleichtert. So würden sich Kinder mit einer starken Bindung zu den Eltern oft mehr zutrauen, mehr ausprobieren und entdecken, während umgekehrt Kinder mit gestörten Beziehungen eher zurückhaltender sind und dadurch eingeschränkter lernen, sagt Höhl.

Klatschen, Schaukeln, Lernen

Die wechselseitige Bezugnahme funktioniert aber nicht nur zwischen Erwachsenen und Kindern, sondern auch unter Gleichaltrigen: Durch rhythmische Aktivitäten wie Klatschen, Schaukeln oder Ballspiele würden Kinder soziales Verhalten erlernen, so die Psychologin, die am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig zum Thema geforscht hatte, bevor sie nach Wien wechselte.

Fest steht: Die Gehirnforschung bestätigt, dass durch individuelle Beschäftigung und Zuwendung auf Augenhöhe – also durch das buchstäbliche Einschwingen auf eine Wellenlänge – leichter gelernt werden kann. Das sollte nicht nur Eltern, sondern auch den Verantwortlichen für Betreuungsverhältnisse in Kindergärten und Schulen zu denken geben. (Karin Krichmayr, 12.5.2019)