Ein Rentier frisst Tang, der an Spitzbergens Küste gespült wurde. Nach der Mahlzeit wird es das Tier möglicherweise etwas eilig haben.
Foto: Brage B. Hansen/NTNU

Auf der Inselgruppe Spitzbergen, knapp 1.000 Kilometer nördlich von Norwegen und damit hoch in der Arktis gelegen, lebt die nördlichste Rentierpopulation der Welt – und mit bis zu 20.000 Tieren ist sie gar nicht so klein. Sie muss irgendwann während der vergangenen Kaltzeit entweder aus Eurasien oder Grönland eingewandert sein und wurde dort abgeschnitten, als sich das Eis zurückzog und die Region vom Meer umschlossen wurde.

Im Lauf der Jahrtausende haben sich die Rentiere von Spitzbergen an ihren Lebensraum angepasst. Sie sind einerseits – ein typischer Fall von Inselverzwergung – kleiner als ihre Verwandten auf dem Festland, zugleich aber gedrungener gebaut, was für ein Leben in großer Kälte günstiger ist. Außerdem sind sie weit weniger mobil als Festland-Rentiere, die häufig ausgedehnte Wanderungen unternehmen.

Regen mit Folgen

Im Zuge des aktuellen Klimawandels ist aber eine weitere Anpassung gefragt. Auch auf Spitzbergen wird es wärmer – und das ist für die Rentiere keineswegs günstig. Es bedeutet für sie nämlich, dass es nun immer öfter regnet anstatt schneit. Schnee können die Rentiere wegscharren, um an ihre pflanzliche Nahrung zu kommen. Der Regen hingegen gefriert am Boden und bildet eine Eisschicht, die kaum zu durchdringen ist.

Wissenschafter um Brage Bremset Hansen von der Norwegischen Universität für Wissenschaft und Technologie haben die Rentierpopulation Spitzbergens über Jahrzehnte hinweg studiert und konnten eindeutig feststellen, dass die Bestände dramatische Einbrüche erleiden, wenn es Perioden mit viel Eis gibt.

Neu auf der Speisekarte

Allerdings zeigen die Tiere auch Anzeichen für eine Anpassung, mit der sie den Notstand zum Teil ausgleichen können: Sie haben damit begonnen, an die Strände zu wandern, um dort Tang zu fressen – ein Verhalten, das sie früher nicht zeigten.

Um zu überprüfen, ob es sich dabei nur um Einzelbeobachtungen handelte, die in Summe nicht ins Gewicht fallen, sammelten und verknüpften die Wissenschafter daher eine Reihe von Daten aus verschiedenen Quellen: Wetteraufzeichnungen, Messungen der Rentier-Bewegungen mittels GPS-Halsbändern und nicht zuletzt Analysen des Rentierkots. Die Verteilung von Kohlenstoff-, Stickstoff- und Schwefelisotopen im Kot gibt Aufschluss darüber, ob die Tiere Landpflanzen oder Tang gefressen haben.

Die Daten ergaben einen eindeutigen Zusammenhang: Wenn sich eine dickere Eisschicht bildet, suchen die Tiere gezielt die Küsten auf, um Tang zu fressen. Sie wandern dabei aber stets zwischen den Stränden und ihren normalen Weidegründen hin und her – der Tang, dessen Nährwert noch einer genaueren Untersuchung bedarf, ist offenbar eher eine Nahrungsergänzung als eine Ressource, die für sich allein ausreichend wäre.

Wermutstropfen

Und noch ein Detail trübt die Freude der Forscher darüber, dass die gefährdeten Tiere Wege finden, sich dem Wandel anzupassen: Mit der Verdauung des neuen Futters hapert es offenbar noch ein wenig. Laut Hansen löst der salzhaltige Tang bei den Rentieren nämlich häufig Durchfall aus. (jdo, 17. 5. 2019)