Bild nicht mehr verfügbar.

Die Väter verrecken auf dem Felde der Ehre: In André de Richauds Roman "Der Schmerz" werden die Folgen des Ersten Weltkriegs ins Licht gerückt.

Foto: Getty Images/Hutton Archive

Es ist der Nordwind, der die Bewohner eines südfranzösischen Dorfes in Aufruhr versetzt. In der kalten Jahreszeit meint man, "die Köpfe blutiger Gespenster gegen die Fensterläden schlagen zu hören". Die Schatten in der Provence werden länger, und der Mistral fährt einem Pubertierenden wie Georges ("Georget") mit nötigender Zudringlichkeit in die Hosenbeine.

Von einer ruhigen, glücklichen Kindheit kann ohnedies nicht die Rede sein. Der Friede trügt in André de Richauds kleinem Roman Der Schmerz – allein schon deshalb, weil Krieg herrscht, genauer der Erste Weltkrieg. Georges’ Vater, ein Hauptmann, der im August 1914 eingezogen wird, bleibt früh auf den flandrischen Feldern der Ehre liegen.

Die Lücke, die der Haustyrann im Heimatdorf hinterlässt, klafft tief. Das ist umso bemerkens werter, als Monsieur Delombre von seinem Autor de Richaud (1907–1968) mit wenigen Strichen als Ekelpaket gezeichnet wird. Ein durchschnittlich bornierter Kleinbürger, der in Friedenszeiten früh am Tag mit Aperitiftrinken beginnt und Frau und Kind mit unerwünschten Proben seiner baritonalen Sangeskunst erfreut.

Camus’ Liebeserklärung

Thérèses frühe Witwenschaft bildet die Keimzelle dieses unscheinbaren Buches: Albert Camus, der nachmalige Nobelpreisträger, erklärte es viele Jahre später zu seinem Lieblingswerk. Sein Autor hätte für Der Schmerz 1930 um ein Haar einen renommierten Literaturpreis erhalten. Doch anstatt mit einem Schlag als Romancier ein gemachter Mann zu sein, wurde de Richaud mit moralischen Bedenken seiner prüden Zeitgenossen konfrontiert. Der leicht beißende Ruch des Skandalautors sollte seiner Karriere nicht nur gut bekommen.

Der Schmerz ist ohne jeden Zweifel ein Buch über Sexualität. Thérèse fügt sich rein äußerlich in die ihr aufgenötigte Rolle als trauernde Hinterbliebene: Sie trägt Schwarz. Sie lässt die tröstenden Worte der anderen Kleinstädterinnen über sich ergehen, und sie begleitet vor allem ihren Sohn durch alle Stadien seines Reifeprozesses. Sie überschüttet Georges mit Proben einer überbordenden Zärtlichkeit. Nicht immer wahrt sie dabei die Grenzen dessen, was als schicklich oder bloß als angemessen gelten könnte.

Die Welt ist aus dem Lot. Ihr Autor verfügt über die allerdings rare Gabe, tausend sinnliche Valeurs gleichsam aus der Luft herbeizuzaubern. Der wilde Wein wächst wie "blutiger Schaum", und die arme Thérèse, als Vierzigerin anno 1915 fast schon eine "alte" Frau, sieht sich dem Ansturm ihrer sexuellen Begehrlichkeiten völlig hilflos preisgegeben.

Das dunkle Wähnen

Ihr stehen – ein Schicksal, das sie mit ihrem pubertierenden Buben teilt – schlicht keine Begriffe zu Verfügung, mit deren Hilfe sie das dunkle Wähnen, das sie plagt, zu ergründen wüsste. Es ist ein deutscher Kriegsgefangener, der Abhilfe schafft. Wie Thérèse den eigenen, gerechtfertigten Egoismus am lebenden Hindernis in Gestalt ihres Sohnes vorbeibugsiert, das ist mit unbedingter Meisterschaft geschildert.

Mag in dem Büchlein die eine oder andere Naturmetapher zu viel vorkommen ("Die Beeren waren prall wie Euter."): André de Richaud, der seine Jugend selbst in Südfrankreich verbrachte und in seiner letzten Lebensphase ein kleineres Comeback feierte, ist ein Meister der Seelenerkundung. Er folgt jeder Regung bis in deren letzte Verästelung. Er konstatiert – gleichsam im Vorübergehen – die Bedingungen für eine Konstitution, die man kleinbürgerlich nennen muss.

Thérèse stirbt nach Erweis ihrer "Schande" den sozialen, schließlich den physischen Kältetod. Eine Gesellschaft ohne väterlichen Halt opfert ihre Schwächsten. Es ist nur noch ein kleiner Schritt, und dann fällt ein großer Teil von Frankreichs Bourgeoisie kopfüber hinein auf die Lockangebote des europäischen Faschismus. De Richauds famoser Roman erzählt die Genese. (Ronald Pohl, 11.5.2019)