Georg Herrnstadt: "Warum richtet sich die Wut oft gegen die Falschen?"

Cartoon: Michael Murschetz

Am 3. Mai wird Frau Rendi-Wagner in der "ZiB 2" von der Moderatorin zur Rede gestellt, wie sie es mit dem Wort Kollektivierung halte – dieses kenne man ja etwa aus der DDR. Huch! Eilfertig schwört die SPÖ-Vorsitzende ab, dieses Wort verwende sie niemals, auch käme ihr nie in den Sinn, private Betriebe wie BMW zu verstaatlichen. Erleichtert atme ich auf. Auch die Industriellen-Familie Quandt, über 30 Milliarden schwer, Arisierer und Kriegsgewinnler großen Stils, kann wieder ruhig schlafen.

Thematisiert wird, ob "Kollektivierung" ein Begriff aus der DDR sei, die Effekte möglicher Vergesellschaftung werden nicht besprochen. Oder dass in Großbritannien weit über 70 Prozent der Bevölkerung wieder die Verstaatlichung der Bahn wünschen. Nicht: Was denkst du? Sondern: Welche Worte verwendest du? Wird Begriffsprovenienz-Forschung nun ein lukrativer Berufszweig?

Wer hat etwa das verstörende Wort "Bevölkerungsaustausch" zuerst verwendet? Ist es nicht völlig belanglos, ob die FPÖ es von den Identitären abgeschrieben hat oder umgekehrt? Oder ob beide es von den Nazis geliehen haben? Oder gar vom Soziologen Max Weber aus dessen Warnung vor der Zuwanderung von Polen nach Oberschlesien vor etwa hundert Jahren? Weber: Die Polen "als Rasse" könnten mit schlechteren Bedingungen leben, sie würden zur Not "das Gras vom Boden essen".

Fruchtbarer Hass und Zorn

"Bevölkerungsaustausch" im Hinblick auf das eigene Volk haben Mussolini und Hitler betrieben: etwa in Südtirol. 75.000 zwangsweise "heim ins Reich"!

Übersieht die Empörung über eine politisch schäbige Rattenallegorie aus Braunau, dass Antinationalist Heinrich Heine "Die Wanderratten" schrieb? "Es gibt zwei Sorten von Ratten, die hungrigen und die satten. Die satten bleiben vergnügt zu Haus, die hungrigen aber wandern aus (...)." Es lohnt sich, dieses Gedicht zu lesen – es ist erschreckend aktuell.

Vergisst die Entrüstung über Hasspostings, dass der deutsche Revolutionär Georg Herwegh uns lehrte: "Wir haben lang genug geliebt und wollen endlich hassen (...)." Schon etwa 600 n. Chr. twitterte Papst Gregor: "Die Vernunft kann sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegenstellen, wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht." Thomas von Aquin soll dieses Posting rund 600 Jahre später "gelikt" haben und der Wut "enorme Gestaltungsmacht" zugesprochen haben.

Zu fragen ist doch: Warum wird gehasst? Warum richtet sich die Wut oft gegen die Falschen? Wie könnten oft begründete Zornpotenziale konstruktive politische Projekte hervorbringen? Das aufzuklären wäre in diesem Zusammenhang die wichtigste Aufgabe. Dazu müssten Weltanschauungen Flagge zeigen. Das Gegenteil ist der Fall, wir lesen inhaltslose Phrasen wie "Europa braucht deine Antwort". Ja, welche denn? "Europa braucht Profis." Ja, welche denn? Mafiosi oder Cheflobbyisten? Sind alle Profis. Die Volksverblödungsmaschine läuft auf Hochtouren.

Vermeintliche Themenführerschaft

Auch viele Medien greifen jede kleine Provokation der FPÖ auf und fordern lauthals Distanzierung. So lassen sie sich bereitwillig vor den reaktionären Zug spannen. Die FPÖ frohlockt, trumpft mit vermeintlicher Themenführerschaft auf.

Goodbye, inhaltliche Breite, hello, Empörungsmanagement. Linke echauffieren sich darüber, dass Identitäre Vorlesungen stören oder Theateraufführungen torpedieren. Das sind politische Aktionsformen, die Linke doch seinerzeit selbst – legitimerweise – eingesetzt haben. Von Bedeutung wäre doch, über Programme und Intentionen zu debattieren!

Darf man die Gelbwesten gut finden, auch wenn Le-Pen-Sympathisanten dabei sind, oder Forderungen nach Lohnerhöhungen unterstützen, die von Rechten vorgebracht werden? Epidemisch verbreitet sich Distanzierungsdruck.

Nicht nur Rendi-Wagner soll sich von Kollektivierungen distanzieren oder die FPÖ von Rattengedichten, auch der ORF distanziert sich von einem Interview mit dem Satiriker Böhmermann in der eigenen Sendung!

Auch Kurz macht mit

Bei "Im Zentrum" zum Thema "Der rechte Rand und die Politik" beschwert sich dann ein scheinheiliger Alt-ÖVPler über Jean Ziegler. Vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen, sollen sich Diskutanten plötzlich von diesem distanzieren. Jean Ziegler, der seit Jahren akribisch Buch führt über die Opfer der strukturellen Gewalt des Kapitalismus, hatte gemeint, dem werde wohl ohne Gewalt nicht beizukommen sein. Und er hat dennoch einen Orden der Stadt Wien bekommen.

Auch Sebastian Kurz bedient sich neuerdings der für die FPÖ typischen Argumentationsfigur "Die andern auch!". Die SPÖ erwerbe die Berechtigung, "rechte Ungeheuerlichkeiten" zu kritisieren, erst, wenn sie sich von Lenin distanziere. Ja, wo sind wir denn! Wie käme die SPÖ dazu?

Ich muss mich jetzt auch noch von Kant distanzieren, schließlich sind bei ihm antisemitische Passagen zu finden. Kategorischer Imperativ ade! Heine und Marx verspotteten Homosexuelle. Distanzieren wir uns!

Proletarier alle Länder, distanziert euch! (Georg Herrnstadt, 10.5.2019)