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Pianist Brad Mehldau – auch als Komponist unberechenbar.

Foto: Getty

Wien – Wenn Brad Mehldau die Einsamkeit sucht, also die Solosituation, wirkt er nur körperlich anwesend. Der grübelnde Jazzromantiker ist ein Virtuose auch der Versenkung. Alte Standards deutet er ebenso wie Pop- und Rockhadern, auch Hendrix' "Hey Joe" oder Radiohead-Miniaturen erfahren dann episch ausufernde Deutungen. Immer spannend, den introvertierten Ekstatiker zu hören. In Zeiten, da Innovation ungeduldig ersehnt wird, da sie sich viel Zeit lässt, schöpft Mehldau aus einem Ideenreservoire des Subjektiven. Es ließ ihn zu einem der markanten Individualisten des Jazz werden.

Zu Mehldaus Wesen gehört dabei auch eine gewisse Sehnsucht nach Klassik. Bei seinen Konzerten mutiert er gern zum Interpreten von Bachs Wohltemperiertem Klavier, über das er auch fantasiert.

Hang zu Brahms

Bei ihm zu Hause hängen aber auch mehrere Bilder von Johannes Brahms, den er "John Boy" nennt. Und auch der Besitz einer Beethoven-Büste liefert Hinweise zu Mehldaus historischem Musikbewusstsein. Wenn er Beethoven oder Bach hört, käme es ihm denn auch vor, er würde "Gott lauschen". Ihre Musik sei "so groß, dass sie einem fast nicht mehr menschlich erscheint."

Ein Blick auf die Beethoven-Büste fühle sich an, "als ob er mir zurufen würde: Bau bloß keinen Scheiß, Brad! Wie wenn der Gott des Alten Testaments den Stab über einen bricht."

Fan der Psalme

Bei solch Gedankenflügen wundert es nicht, dass der Mann aus Jacksonville (Jahrgang 1970) auch aus einer gewissen Bibelaffinität Inspiration schöpft. Die Wege zum Werk sind so unergründlich wie jene des Herren, würde Brad wohl sagen. Und siehe da! Mit "Finding Gabriel" (Nonesuch) hat er nun ein religiös getöntes, zehnsätziges Opus vorgelegt. Es ist allerdings keine unterwürfig-verkrampfte Jazzmesse. Mehldau hat üppig instrumentiert und er geht über Klavierspielchen weit hinaus. Er agiert am Synthesizer, auch als Perkussionist, er perlt am Fender Rhodes und er singt.

In Summe ein Werk der eklektischen Exzentrik, welches durch Klanverfremdung vor Abstürzen ins allzu Seichte bewahrt wird. Da sind hübsche, ins Dissonanante kippende Melodien; drumherum schwellen engelhafte Stimmen an, Trompetenexzesse, die die Vokalisten aber ins Verrückt-Verzückte mitnehmen.

Geige singt

Prominenz ist mit Trompeter Ambrose Akinmusire und Sänger Kurt Elling zugegen. Beide sind allerdings nur Mosaiksteinchen in einem kauzigen Kosmos der akustischen Bibeldeutung. Mal tönt es wie subtile Klavierkunst, dann wieder, als hätte Sting mitkomponiert. Skurrile Synthieklänge wiederum gemahnen an 1970er-Jahre-Filmmusik. Und als wäre es der Mixtur nicht genug, implantiert Komponist Mehldau auch Latinflair, Elektrodrums, Synthiepop, Orientalisches und fragiles Geigengezirpe mit hinein. Wenn er nur aufhören könnt!

Wieso musste das alles passieren? Mehldau meint, prophetische Schriften der Bücher Daniel und Hosea "hallten neben der Weisheitsliteratur von Hiob und Ekklesiastes, sowie den frommen Zeilen der Psalmen in mir besonders nach." Die Bibel habe er gelesen, "wie die Anleitung zur Gegenwart, auch wie einen langen Albtraum oder auch wie einen Wegweiser" zum tieferen Wissen. Wie auch immer.

Gabriel spricht

Im letzten Teil zitiert Mehldau Erzengel Gabriel, der David erscheint: "Als du zu beten begannst, gab Gott mir eine Antwort für dich, denn er liebt dich. Ich bin hier, um sie dir mitzuteilen."

Mehldau aber wirkt bei all dem religiösen Nebel künstlerisch nicht devot Weisheit empfangend. Er hat eine schräge Welt aufleben lassen, die das Religiöse umrankt. Wieder einmal zeigt sich Mehldau so als freigeistiger Risikomusiker, der auch dann, wenn er sich in seltsame Regionen verirrt, nicht zaghaft wirkt. Lieber ein deftiger Irrtum als abgesicherte Routine. Beethoven, der als Büste auf Mehldau blickt, wird dem bibelfesten Exzentriker für Finding Gabriel seinen Segen erteilen. (Ljubiša Tošić, 10.5.2019)