Insgesamt hatten sich fast 17.000 Menschen für die Aktion "Europa spricht" angemeldet, die überall auf dem Kontinent Personen mit unterschiedlichen Meinungen zum politischen Zwiegespräch zusammenbrachte.

Foto: Lena Mucha / Zeit Online

500 "Europa spricht"-Teilnehmer kamen nach Brüssel, um gemeinsam über Gegensätze zu diskutieren. Europaweit trafen einander mehrere Tausend.

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"Wir stehen für Einheit in Vielfalt", sagt Yasmine Ouirhrane, Young European of the Year. "Wir, People of Color, Söhne und Töchter von Immigranten, wir gehören dazu."

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"Wir sind nicht wegen unserer Geschichte zusammen, sondern wegen unserer Zukunft", sagt Kolumnist Jeremy Cliffe und meint, dass gerade die großen Herausforderungen unserer Zeit zusammenschweißen würden.

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Auf der Suche nach einer gemeinsamen Sprache könne man trotz Brexits beruhigt auf Englisch zurückgreifen, meint der belgische Philosoph Philippe van Parjis. Es sei eine kontinentale europäische Sprache mit Einflüssen aus dem Deutschen und Französischen.

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Esa-Astronautin Samantha Cristoforetti: "Wir müssen Probleme anerkennen, wir müssen gewillt sein, Kurse zu ändern, aber wir müssen weiter unseren Traum verfolgen."

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Das Auditorium ist gesteckt voll, als sich der Herr auf dem Nebensitz, interessiert an meinem Notizbuch, bei mir vorstellt. Serge ist einer von rund 500 Teilnehmern und Teilnehmerinnen, die sich am Samstag zum "Europa spricht"-Auftaktevent im Brüsseler Bozar-Theater eingefunden haben. Insgesamt hatten sich fast 17.000 Menschen für die Aktion angemeldet, die überall auf dem Kontinent zumindest für ein paar Stunden Personen mit unterschiedlichen Meinungen zum politischen Zwiegespräch zusammenbrachte.

Serge ist schon vor dem Programmstart begeistert. "Ich bin mit einer Gesprächspartnerin hier, mit der ich nichts gemeinsam habe, aber wir verstehen uns großartig", lacht er. Er ist Mitte 60 und der eigenen Beschreibung nach ein pensionierter, nationalistisch eingestellter Anwalt aus Flandern. Sie, Shamim, ist etwas jünger und eine liberale Londonerin muslimischen Glaubens und bestätigt mit heiterer Miene die gute Chemie trotz Gegensätzen.

Das hat es noch nie gegeben

Dann wird es dunkel. Serge verstummt, das Publikum richtet seine Augen und Ohren zur Bühne. Der Startschuss für "Europa spricht" erfolgt. Ein Dialogprojekt, das von 16 internationalen Medien wie "Zeit Online", DER STANDARD, "Financial Times" und Arte auf die Beine gestellt wurde. "Was hier passiert, hat es in Europa noch nie gegeben", so der Tenor. Länderübergreifende Debatten zwischen Menschen, die allesamt hören wollen, was andere über drängende Fragen wie die Migration, die Beziehungen zu Russland oder den Klimawandel denken. Studenten, Angestellte, Unternehmer, Pensionisten – alle mit dem Wunsch, wenigstens für ein Treffen in persona oder per Videochat die Bruchlinien in der Gesellschaft zu überwinden.

"Wir müssen schauen, dass wir näher zusammenrücken und nicht weiter auseinanderdriften", fordert Michelle Müntefering, Deutschlands Staatsministerin für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. "Nationale Antworten sind für unsere weltweiten Probleme nicht mehr ausreichend." Kurz vor der EU-Wahl eine aufgelegte Kampfansage an die zunehmend stärker werdenden Rechtsparteien, denke ich mir. Und ein klares Zeichen gegen Nationalismus, doch zu meiner Überraschung klatscht auch Serge am Ende von Münteferings Rede. Reine Höflichkeit? "Mit dem Alter mäßigen sich meine Ansichten", schmunzelt Serge. "Ich bin nicht gegen Immigration. Aber Immigranten müssen unsere Kultur respektieren und unsere Sprache sprechen. Ich bin flämisch-nationalistisch, aber gegen Extreme."

Trump und Farage auf den Euroscheinen

Extreme und Engstirnigkeit seien überhaupt das große aktuelle Problem, nicht nur Europas. Ein Blick in die USA verdeutliche das, meint der ehemalige Rechtswissenschafter: "Trump-Wähler stellen sogar Darwin infrage. Oh la la!"

Gerade dieses Extrem in Übersee sieht Jeremy Cliffe, Kolumnist beim Wirtschaftsmagazin "The Economist", als Chance für mehr Zusammenhalt in Europa. "Europa ist immer noch gespalten", so Cliffe. Um voranzukommen, können wir nicht auf die Vergangenheit blicken und nach Gründen suchen, weshalb wir vielleicht besser doch nicht grenzüberschreitend zusammenarbeiten sollten. "Wir brauchen mehr Realpolitik", sagt der Kolumnist, denn Europa habe immer dann am stärksten zusammengehalten, wenn es vor großen Herausforderungen stand. Daher sollte auf dem nächsten Fünf-Euro-Schein keine Sehenswürdigkeit, sondern das Bild von Nigel Farage zu sehen sein – also jenem Mann, der den Brexit angezettelt und sich dann schnell aus dem Staub gemacht hatte. Und was sollte auf dem Zehn-Euro-Schein zu sehen sein? "Donald Trump" natürlich. Das amüsiert auch Serge.

Video: DER STANDARD hat zwei "Europa spricht"-Teilnehmer mit gänzlich unterschiedlichen Meinungen bei ihrem Treffen begleitet.
DER STANDARD

"Ein Kontinent, der große Bewunderung verdient"

Die großen Probleme Europas stellt die italienische Kampfpilotin und Esa-Astronautin Samantha Cristoforetti in Relation. Als Frau, die im Rahmen von zwei ISS-Missionen fast 200 Tage außerhalb der Erde verbracht hat, sei Europa vor allem eines: "Ein Kontinent, der große Bewunderung verdient." Und: "Wir müssen Probleme anerkennen, wir müssen gewillt sein, Kurse zu ändern, aber wir müssen weiter unseren Traum verfolgen."

Von den Problemen, den persönlichen und den globalen, ist im Anschluss an die Reden dann viel zu hören. Zwischen den hunderten Köpfen, die in Diskussionen vertieft sind, sind Uneinigkeiten, Gemeinsamkeiten und vor allem Respekt vor dem Gegenüber zu vernehmen. Die Welten eines homosexuellen Mannes und eine Gegnerin der Ehe für alle prallen aufeinander. Ein Klimawandelskeptiker versucht seinem Gesprächspartner seine Skepsis zu erklären. Eine Polin erzählt, weshalb ihr Deutschlands Nähe zu Russland Sorgen bereitet. Und ein gebürtiger Kubaner mit deutscher Staatsbürgerschaft und ein Österreicher sind sich einig darüber, dass es mit der sozialen Gerechtigkeit rapide bergab geht. Bei der Suche nach einer Lösung kommen sie jedoch partout nicht auf einen grünen Zweig.

Es ist ein Anfang

Die großen Probleme werden auch bei diesem Großereignis, das es in Europa "noch nie gegeben hat", nicht gelöst werden. Doch es ist ein Anfang. Ein Anstoß vielleicht.

Zumindest beim "flämischen Nationalisten" Serge und der "liberalen Muslimin" Shamim, die politisch nicht weiter auseinander liegen könnten, hat die Zusammenkunft etwas bewirkt. "Wir verstehen einander so gut, dass wir einander nach Hause eingeladen haben", verraten sie mir bei unserer Verabschiedung. "Ich und meine Frau zu ihr nach London und Sie und ihr Mann zu mir nach Belgien." Na, wenn das nicht europäisch ist. (Zsolt Wilhelm, 12.5.2019)