Am 1. Mai marschierten linke Demonstranten durch das Berliner Villenviertel Grunewald. Die bunten Proteste gegen die wachsende Ungleichheit und die Macht des Kapitals in der deutschen Politik sind Teil einer zunehmenden Kapitalismusdebatte.

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Wirtschaft ist keine Privatangelegenheit weniger, sondern öffentliche Angelegenheit aller, so Ulrich Brand. Diese Machtfrage habe Kevin Kühnert wieder ins Zentrum gestellt. Was können wir aus der Debatte um das Interview des Juso-Chefs lernen können, erläutert der Politikwissenschafter im Gastkommentar.

Der Vorsitzende der deutschen JungsozialistInnen denkt in einem Interview in Die Zeit über Sozialismus nach. Das sollte er in dieser Position gelegentlich auch machen. Er fordert angesichts der enormen Wohnungskrise in den meisten deutschen Städten, dass die Wohnungen jenen gehören sollten, die sie nutzen. Oder Wohneigentum genossenschaftlich zu organisieren. Im Hinblick auf die zynische Unverantwortlichkeit und das Versagen der Manager der deutschen Automobilindustrie bringt er die Idee ins Spiel, diese in einem demokratischen Prozess zu vergemeinschaften. Und auf die allgemeine Idee des Sozialismus angesprochen, führt Kühnert aus, dass die Kritik am herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem wichtig sei. Im Grunde genommen präsentierte er in guter reformistischer sozialdemokratischer Tradition das Modell des "demokratischen Sozialismus".

Interessant war nun die Diskussion der letzten Woche. Dabei ist nicht zu vergessen, dass sich Deutschland wie ganz Europa gerade im Wahlkampfmodus befindet. In Österreich bemerkt man das weniger daran, dass zukunftsweisende Debatten geführt werden, sondern dass Kanzler Sebastian Kurz und Vizekanzler Heinz-Christian Strache einander gegenseitig kritisieren.

Im Schatten der Europawahl

Doch in Deutschland regte das Interview in der letzten Woche intensive Debatten an. Leute von der CSU unterstellen Kühnert, dass er die "DDR als Erfolgsmodell" präsentiere. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer spricht von "Populismus" und "einfachen Antworten". Der SPD-Wirtschaftsflügel fordert den Parteiausschluss des Jusos-Chefs. Doch in der SPD werden ohnehin weniger die Überlegungen eines ihrer (bisherigen) politischen Hoffnungsträger diskutiert, sondern welche Auswirkungen sie auf das Wahlergebnis am 26. Mai und bei den Landtagswahlen im Herbst haben könnten. Die Grünen haben sich bislang überhaupt nicht zu Wort gemeldet.

Aus meiner Sicht muss eine solche Diskussion über die Zukunft des Kapitalismus angesichts der aktuellen, meist kurzsichtigen und an Wahlen ausgerichteten Debatten, der Krise der Demokratie und der Gefahr einer neuen Wirtschaftskrise sowie der immer manifesteren Klima- und Umweltkrise geführt werden. Kühnert drückt ein weitverbreitetes Unbehagen aus.

Welche Diskussionen also könnten seine Aussagen anstoßen?

  • Zum einen: Das Eigentum an Produktionsmitteln und Wohnraum ist kein Grundrecht, sondern sozial verpflichtend. Die Konzerne und Finanzmarktakteure mit dem Mantra des Shareholder-Value wollen das natürlich nicht hören; hohe Managerboni sind wichtiger als die Zukunft der Menschheit. Doch der Zugang zu den grundlegenden Lebensmitteln wie Nahrungsmitteln, Bildung, Gesundheit sollte für alle gesichert sein – dazu gehört auch das Wohnen. Das kapitalistische Wirtschaftssystem, das zweifellos materiellen Wohlstand für viele Menschen schafft, verweigert ebenso vielen ein auskömmliches Leben, weil sie zu schändlichen Löhnen arbeiten oder überhöhte Mieten bezahlen müssen. Wohlstand und Profite widersprechen einander eben oft.
  • Auch wenn Kühnert das nicht direkt anspricht – die Aktiven im Klimastreik verdeutlichen zweitens ein weiteres Problem: Seit 50 Jahren wissen wir um die ökologische Krise, doch sie wird mit einer kapitalistischen Wachstumswirtschaft nicht zu bearbeiten sein. Allem Gerede von "grünen" Innovationen und grüner Ökonomie zum Trotz – die imperiale Produktions- und Lebensweise muss sehr grundlegend umgebaut werden. Hier kommen die Überlegungen von Kühnert zum demokratischen Sozialismus ins Spiel: Solch ein Umbau wird nicht ohne eine Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien zu machen sein, damit zentrale Bereiche des Wirtschaftssystems gesteuert und das Prinzip der Bedürfnisorientierung verankert werden kann.
  • Drittens: Der Grund, warum die Debatte eine derartige Wucht entfaltet, scheint aber darin zu liegen, dass Kühnert die gesellschaftlichen Machtverhältnisse anspricht, nämlich die Besitzer der großen Vermögen. Mit dem Stellen der Machtfrage hat er eine rote Linie überschritten, nämlich die wahren Nutznießer des heutigen Systems und Gegner einer solidarischen und ökologischen Politik zu benennen. Das ist eben auch ein Machtfaktor: Die wirklich reichen Familien, die 0,5 Prozent, die in der deutschen Wirtschaft und in den Medien das Sagen haben und deren politischen Einfluss wir nur erahnen: die Familien Quandt, Albrecht, Otto und andere. Auch wenn der Kapitalismus eine sehr komplexe Struktur ist, spielen mächtige Akteure dennoch eine Rolle.
    Spannend wäre, auch in Österreich mehr über Reichtum, seine Nutzung und die wirklich Reichen zu sprechen.

Menschen und Konzerne

Die SPÖ plakatiert im EU-Wahlkampf zwar mit dem Bild ihres Spitzenkandidaten Andreas Schieder die Frage "Menschen oder Konzerne?", was natürlich eine konzernkritische Position andeuten soll. Man wundert sich: Der SPÖ geht es doch, außerhalb von Vorwahlzeiten, immer um beides: Menschen und Konzerne. Letztere schaffen vermeintlich jenen Wohlstand, den die Sozialdemokratie angeblich immer noch am besten zu verteilen weiß.

Doch vielleicht öffnet sich hier etwas. Vielleicht wird auch in der SPÖ sagbar, was etwa in der Schweizer Sozialdemokratie seit zwei Jahren intensiv diskutiert wird: Es bedarf dringend einer Demokratisierung der Wirtschaft, um überhaupt die Chance zu haben, Wirtschafts- und Umweltkrisen abzuwenden. Wirtschaft ist eben keine Privatangelegenheit weniger, sondern öffentliche Angelegenheit aller. Diese Machtfrage hat Kühnert wieder ins Zentrum gerückt.

Zynischer Wahlkampf

Was wir von der Debatte um das Zeit-Interview noch lernen können: Es lohnt sich politisch schon, wenn sich einmal jemand traut, positiv über eine andere Zukunft nachzudenken. Wie sieht denn eine Welt aus, die nicht von den Vermögenden, von den Hightech-, Industrie- und Ölkonzernen und den ihnen verfallenen politischen Eliten strukturiert wird?

Es ist doch erstaunlich, dass die politischen und wirtschaftlichen Eliten, aber auch ein Großteil der Gewerkschaften – der antiökologische Wahlkampf der Sozialdemokraten bei der jüngsten AK-Wahl grenzte an Zynismus – so tun, als könne es weitergehen wie bisher.

Freilich: Bei SPÖ und Grünen sieht es im Hinblick auf grundlegende Alternativen zum Kapitalismus im Krisenmodus mau aus. Aber vielleicht irre ich mich auch. Angesichts von 100 Jahren "Rotes Wien" könnte an einige positive Erfahrungen angeknüpft und sie ökologisch weitergetrieben werden. (Ulrich Brand, 12.5.2019)