In den französischen Pyrenäen werden die Schafherden auf weit über 2.000 Meter Seehöhe getrieben.

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Dem Pic du Canigou liegen beeindruckende Felsformationen zu Füßen.

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In dieser Landschaft sind die Schäferfamilie Coste und ...

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... Käsesorten wie der Tomme de Pyrénées zu Hause.

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Die hölzernen Fensterläden zur Veranda sind offen, die Fenster selber ebenso. Und: nichts, kein Ton, nicht mal der Ruf eines Uhus. Es gibt diese Nächte ganz ohne Geräusche wirklich – bis Yves Coste gemeinsam mit seinem Schwiegersohn Alex frühmorgens die Stalltür öffnet und die Schafe wieder auf die Weide lässt. Ihr vielstimmiges "Määhh" ist der Weckruf für den Hof.

Ansonsten ist die Gegend rund um Montferrer in den französischen Pyrenäen still, und sie ist weit und friedlich, die Ruhe bei Nacht für manche so irritierend, dass sie denken, sie haben ihr Gehör verloren. Für die Urlauber etwa, die sich in eine Etage des Bauernhofs einmieten und zwei Wochen lang ihr vertrautes Leben dagegen eintauschen, Teil einer Schäferfamilie zu werden.

Käse mit Tradition

Drei Jahre lang haben Yves und Ghislaine Coste nach genau so etwas gesucht, ehe sie den seinerzeit bereits seit über einem Vierteljahrhundert verlassenen Hof aus dem Jahr 1866 mit seinen 23 Hektar Land gefunden und nach und nach erst repariert, dann restauriert haben. Für manche Wand mussten sie die Natursteine neu zu stapeln beginnen, manchen dicken Balken mussten sie verstärken. Heute leben sie hier mit ihrem Sohn, mit Tochter und Schwiegersohn, mit 150 Schafen, sechs Hütehunden, ein paar Schweinen. Und mit Enkel Marius, erst vier, der sich mit der fast gleich alten Pyrenäen-Hütehündin Orri bestens versteht, obwohl sie ihn an Größe noch immer überragt.

Nur 14 Dörfer gibt es entlang des etwa 35 Kilometer langen Tales zwischen dem Canigou mit seinem fast 2.800 Meter hohen Gipfel und der spanischen Grenze, keine 20 aktiven Bauernhöfe – aber acht Schafherden mit anderthalbtausend Tieren. Acht Schäferfamilien halten hier die Tradition am Leben. Wie gut, dass sie es tun. Denn sonst gäbe es diesen Käse nicht, den sie aus der Milch ihrer Schafe herstellen. Und sonst könnte man sie nicht besuchen fahren, nicht bei ihnen wohnen.

Die nächste befestigte Straße ist vom Bauernhof der Familie Coste einen mutigen Serpentinenritt über eine ausgewaschene, schmale Buckelpiste erreichbar. Der nächste Ort in ein paar Kilometer Entfernung heißt Montferrer und hat nur ein paar Dutzend Einwohner. Die nächstgrößere Gemeinde ist der Festungsort Prats-de-Mollo-la-Preste in 15 Autominuten mit knapp elfhundert Menschen. Es ist ein schwer erreichbares Niemandsland auf halben Weg zwischen Toulouse auf französischer Seite und Barcelona auf der spanischen.

Geräusche mit Seltenheitswert

Und es ist, als wäre alles komplett durchgetauscht. Die vertrauten Geräusche von zuhause gibt es nicht mehr. Fahrende Autos sind plötzlich eine vage Erinnerung aus der Vergangenheit. Martinshorn, Hupen, Bässe aus dem offenen Fenster? So etwas hat hier draußen noch keiner gehört. Stattdessen surren Bienen, Wind knistert in den Zweigen der alten Eichen, lässt die Blätter rauschen, als gäbe es direkt hinter dem alten Haus einen Gebirgsbach. Telefonklingeln hat auch Seltenheitswert, an die Haustür müssen Besucher klopfen. Zufällig kommt ohnehin niemand vorbei, Bäuerin Ghislaine Coste stellt Frischkäse und Brot morgens einfach so auf dem Gartentisch der Ferienwohnung ab. Von der Wiese hinterm Haus ruft es vielstimmig "Määäh", Schafsglocken scheppern, ein Border Collie bellt vor der Gartentüre, Vögel singen. Die Welt ist anders rund ums Canigou-Massiv in den französischen Pyrenäen.

Welches Schaf zu den nur zehn Prozent gehört, die eine Glocke umgehängt bekommen, ist eine Wissenschaft für sich. Die Schäfer schätzen dafür die Charaktere ein: "Wer schlecht hört oder schwer zu melken ist, der ist dominant genug, die Glocke zu tragen. Denn das sind die Tiere, auf die die anderen hören", sagt Alex.

Die Herde verteidigen

Wer mag, kann frühmorgens mitkommen zur Herde, nachmittags beim Melken assistieren, anschließend bei der Käseherstellung zusehen. Und alles durchprobieren. Herzhaften Tomme de Pyrénées gibt es hier, dazu den Nadalet als eine lokale Reblochon-Variante, außerdem Frischkäse. Alles reift im eigenen Keller, schmeckt nach Schaf, nach Bergen, nach dem glatten Gegenteil von Industrieprodukt. Und besonders gut mit einem Gläschen lokalen Rives Altes-Likörwein. Die Costes verkaufen ihren Käse und ihre selbstgemachte Wurst zwei Tage die Woche auf Bauernmärkten, beliefern Delikatessgeschäfte und Restaurants. Ihre Kollegen der sieben anderen Käsereien aus dem langgestreckten Tal machen es nicht anders.

Manche der Schäfer wie Yves Coste treiben ihre Tiere erst im August auf die Hochweiden, bei mildem Wetter erst Ende November wieder zurück zu den Höfen. Einzig die Hunde sind in den Nächten bei ihnen – und die längste Zeit des Tages. "Ich fahre oft für ein paar Stunden hin, schaue nach der Herde", erzählt Yves, "setzte mich auf einen Felsen, schweige und genieße die Natur, die Luft, die Weite. Doch manchmal ist in der Käserei noch so viel zu tun, dass ich nach 20 Minuten wieder umdrehe." Gefahr droht den Tieren kaum. Bären gibt es hier nicht, Wölfe haben Seltenheitswert und Hütehunde wie Orri sind dafür gezüchtet, resolut gegen jeden potenziellen Gefährder vorzugehen und "ihre" Herde zu verteidigen.

Die Weiden sind geblieben

Kaum vorstellbar, dass viele der Hänge hier bis in die 1960er-Jahre kahl waren: gerodet, um Feuerholz für die Öfen der Eisenindustrie zu haben. Sie sind mit Erfolg wieder aufgeforstet worden, die Weiden als Freiflächen übrig geblieben.

Etliche der Höfe in der Region sind gerade von der nächsten Generation übernommen worden. Die Bauern sind erstaunlich jung, manche sogar Quereinsteiger. "Dieses Leben", sagt Yves Coste, "scheint wieder einen Zauber zu entfachen". Vielleicht, weil die Natur alles vorgibt, die Uhr keine Rolle spielt, das Smartphone meistens kein Netz hat. Es ist der bewusste Schritt aus der Zeit, der junge Menschen in den französischen Pyrenäen heute wieder Schäfer werden lässt: dasselbe Motiv, das Urlauber dazu bringt, ein oder zwei Wochen lang hier abzutauchen.

Ob sich Familie Coste damals bei der Suche nach dem richtigen Hof auch anderswo umgeschaut hat? "Nein", sagt Vater Yves, "nur in den Dörfern des lang gezogenen Tales Vallespir. Weil das Klima besonders milde und noch mediterran beeinflusst ist. Und weil die Menschen hier offener sind als anderswo in Gebirgen. Es war eine gute Entscheidung." (Helge Sobik, 17.5.2019)

Die Reise erfolgte teilweise auf Einladung von Tourisme Occitanie.