Ein Free-Jazz-Musiker und Komponist von europäischem Format hält seit sechs Jahren in Wien die Stellung: Georg Gräwe kann Duke Ellington ebenso buchstabieren wie Pierre Boulez.

Foto: Heribert Corn

Wer Georg Gräwe (62), den Sohn eines Bochumer Gastwirts, einen "Jazzer" nennt, muss auf Widerspruch gefasst sein. Dabei gehört Gräwe schon seit Ewigkeiten zu den ausschlaggebenden Elementargeistern des europäischen Free Jazz.

Als Pianist ist er nicht nur solistisch, sondern auch im Duett mit Kollegin Marilyn Crispell oder in traditioneller Triobesetzung erwiesenermaßen befähigt, filigrane Themen kurz und klein zu spielen. Doch Gräwe sagt, Jazz sei ihm nicht genug. In Abwandlung eines alten Merkwortes gilt: Wer nur von Jazz etwas versteht, versteht auch davon nichts.

Jazz Explorer

Seit September des vergangenen Jahres gastiert Georg Gräwe mit seinem Sonic Fiction Orchestra allmonatlich als Stageband im Wiener Porgy & Bess. Alle Jünger der herkömmlichen Kategorienlehre haben dabei das Nachhören. Free-Freunde gehen nicht etwa leer aus. Sie müssen nur eine Vielzahl von Eindrücken kaleidoskopisch ordnen. Und sie dürfen über keine Stilbrüche klagen.

Gräwe ist die späte, europäische Antwort auf Jazz-Bandleader wie Duke Ellington. Er gibt am Klavier die Motive vor, zerlegt und zergliedert sie. Harmonische Zweideutigkeiten verdichtet er zu Akkorden. Gleich darauf schnellt der Mann vom Hocker hoch und gibt einem Nonett aus u. a. Harfe (!), Cembalo, Fagott und E-Gitarre die Einsätze. Das Ensemble tönt wundermild und öffnet Horizonte, die man vage schon bei Anthony Braxton oder Michael Mantler vor Ohren gehabt zu haben meint. Die Klampfe darf regelrecht rocken!

Herrlicher Benzingeruch

Am heutigen Dienstag gesellt sich noch die Stimme von Sängerin Almut Kühne hinzu. Und siehe da: Gräwe ist ein emphatischer Verfechter der Moderne. Es werden Vertonungen von T. S. Eliot erklingen oder auch das Gedicht eines italienischen Futuristen, der den Geruch von Benzindampf in den Gassen preist. Gräwe erachtet solche Volten als notwendige Operationen dialektischen Denkens. Er ist ein ungemein belesener Zeitgenosse. Ein Hausgott von ihm ist ausgerechnet der Wiener-Gruppe-Dandy Konrad Bayer, genauer gesagt: dessen Fragment der sechste sinn.

Erzählt Gräwe von der eigenen Genese als Musiker und Mensch, so kommt er rasch von den Beatles zu seiner wahren Herzensliebe: dem britischen Improvisationsrocktrio Cream. Die, sagt er, seien deshalb so genial gewesen, weil sie mit dem Format des Popsongs in Wahrheit nicht zurande kamen. Einzig aus der Überforderung resultieren Schönheit und Pracht. Gräwe sagt: "Für mich ist Jazz nur ein Teil der Entwicklung." Bloß wolle er mit dem meisten, was heute in diese Kategorie fällt, rein gar nichts zu tun haben.

Jazz dürfe keine Repertoiremusik sein. Dinge würden kategorisiert: der sicherste Weg, um sie unschädlich zu machen. Gräwe liebt in der Musik die "Aufregung". Er sagt: "Ich glaube an den Fortschritt." Darin aber sei er ganz konservativ. (Ronald Pohl, 13.5.2019)