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Vergangenes Jahr siegte die Israelin Netta mit dem Song "Toy". Beim ersten Halbfinale gehen am Dienstag ab 21 Uhr unter anderem die Favoriten Finnland, Island und Australien ins Rennen.

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Mario Lackner hat zwei Bücher zum ESC geschrieben.

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Alle Jahre wieder kommt der Eurovision Song Contest. Der seit über sechs Jahrzehnten bestehende Liederwettbewerb der Europäischen Rundfunkunion ist mit rund 200 Millionen Zuschauern das größte jährlich wiederkehrende TV-Ereignis der Welt.

Diese Superlative und die ab 2009 technisch perfektionierte visuelle Umsetzung dieses europäischen Popmusikwettbewerbs können aber über ein Detail nicht hinwegtäuschen: Der Inhalt ist mau. Die Kraft des Gros der Songs hält sich in Grenzen, die Liga, in der viele Interpreten spielen, ist bestenfalls B, und die Show? Die Inszenierung der Drei-Minuten-Auftritte ist nicht selten way too much.

B-Liga oder nicht, am Dienstag treten in Tel Aviv 17 Sängerinnen und Sänger um ihren Einzug ins Finale am Samstag an.

Der ORF hatte sich 2007 nach dem Absturz Eric Papilayas mit der Life-Ball-Hymne Get a life – get alive von dem musikalischen Trash-Zirkus zurückgezogen, um 2011 wieder mit einer altbackenen Powerballade in den Ring zu steigen. Nadine Beiler wurde damals verbrannt, was fast nach Strategie aussah, weil es bis auf Conchita Wurst Jahr für Jahr immer wieder passiert: Ein talentierter Künstler wird mit einem nicht wirklich konkurrenzfähigen Lied zum Contest geschickt, wo dann oft der Einzug ins Finale gelingt, aber der Sieg sich dann leider doch nicht ausgeht.

Nicht-gewinnen-Wollen

Das Nicht-gewinnen-Wollen ist aber kein allein alpenrepublikanisches Phänomen. Schon im Jahr 2010 schrieb Jonathan Moles in einem seiner Guardian-Artikel über Gerüchte, dass gewisse Länder absichtlich chancenlose Beiträge entsenden würden.

Anne-Marie David und Marie Myriam (ESC-Siegerinnen für Luxemburg bzw. Frankreich) bestätigen in Interviews, dass es in Frankreich nicht anders gewesen sei als in Österreich. Spricht man mit Insidern, so gab es Ähnliches in Deutschland, Kroatien, Spanien, Großbritannien ...

Die Liste ließe sich fortsetzen, und doch gibt es eine Handvoll Ausnahmenationen, die den Bewerb ernst nehmen, sich ins Zeug legen und dadurch eine Erfolgsbilanz an den Tag legen: allen voran Schweden. Das Land gewinnt seit Abba 1974 mindestens einmal pro Dekade, seit 1999 sogar öfter. Die Sowjet-Nachfolgestaaten Russland, die Ukraine und Aserbaidschan wollen auf Biegen und Brechen siegen und tun das auch, wenn es sich einmal nicht für Schweden ausgeht oder keine Ausnahmeerscheinungen die Bühne entern wie Finnlands Lordi, Portugals Salvador Sobral oder Conchita Wurst.

Doch warum verschließen ORF, NDR, die BBC und Co die Augen vor Erfolgsrezepten? Warum schaut man sich nicht, wie Aserbaidschan oder Russland, etwas von Schweden ab? So gewann Aserbaidschan 2011 und Russland beinahe 2015 beim Song Contest in Wien: Der Friedensappell A Million Voices stammte aus einer schwedischen Feder, sogar die Chorsänger waren aus Stockholm und Umgebung. Das Konzept wäre aufgegangen, wenn nicht Schweden selbst mit seinem ähnlich stimmigen Gesamtpaket europaweit bei den Jurys beliebter gewesen wäre als Putins Zarenreich.

Planloses Wursteln

Entweder ist es planloses Trial and Error (da kann man sich dann darauf hinausreden, dass der ESC unberechenbar sei) oder bewusste Strategie – oder beides: Die letztverantwortlichen TV-Direktoren scheuen verständlicherweise die Organisation des Megaevents. Das Reglement sieht vor, dass der siegreiche Sender den nächsten ESC veranstalten muss. Lieber lassen die Verantwortlichen die zuständige Unterhaltungsabteilung rumwurschteln. Das Projektteam gibt blind sein Bestes, die Direktion lässt die jährliche Misere budgetschonend zu.

Gut für die Finanzsituation der jeweiligen TV-Station, schlecht für die Qualität der Beiträge. Auch 2019 sind diese meilenweit davon entfernt, so etwas wie eine popmusikalische Leistungsschau Europas zu sein. Packen die Songs? Sprühen die Lyrics vor Poesie? Strahlen die Musiker aus ihrem Herzen, oder sind es doch nur die tausenden Scheinwerfer und funkelnden Kostüme? Und hält die Stimme der nervlichen Belastung stand?

Es sind heuer wieder nur wenige Beiträge, bei denen diese Fragen mit Ja beantwortet werden kann. Jene von Italien und Australien sowie – wieder einmal – der von Schweden. Die vom ORF nominierte Pænda und Deutschlands S!sters werden, so meine Prognose, nicht um den Sieg mitspielen. Zufall oder Absicht? (Mario Lackner*, 14.5.2019)