Was kostet eine Lüge? Nicht immer gleich viel, folgt das Geschäft um die Wahrheit doch den Gesetzen des Marktes: Je weniger von ihr verfügbar ist, desto teurer wird es.

Im Falle des Reaktorunglücks von Tschernobyl 1986 gelangte die Wahrheit lange Zeit nicht ans Tageslicht. Jahrelange Managementfehler führten zum verheerenden Super-GAU, der in eine weitere Katastrophe mündete, nämlich jene des fahrlässigen Umgangs und der versuchten Vertuschung. Die fünfteilige TV-Serie Chernobyl rollt ab heute, Dienstag, bei Sky die Geschichte der Wahrheitsfindung als fiktive Erzählung neu auf.

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Sie setzt im Jahr 1988 in einem Zimmer in Moskau ein. Ein Vermächtnis sprach man damals noch auf Musikkassetten. Waleri Legassow tut das, fünf Bänder hat er schon beisammen. Als er fertig ist, wickelt er die Kassetten in Zeitungspapier und steckt das kleine Päckchen in einen grünen Mistkübel. Er trägt ihn hinaus, um die Ecke, vorbei an den Mülltonnen, blickt sich verstohlen um und schiebt das Päckchen in einen Verschlag. Ein Mann sitzt nur wenige Meter entfernt in einem Auto und schaut ihm zu. Der Wecker steht auf halb zwei Uhr früh. Zeit zu handeln.

Foto: HBO / Sky

Die Kassetten enthalten brisante Informationen über Fehler, die am 26. April 1986 zur Explosion des Reaktors vier im Kernkraftwerk Tschernobyl und zum Super-GAU führten, dem größten anzunehmenden Unfall also. An den Aussagen des Kernforschers Legassow orientiert sich die Handlung von Chernobyl, die nach diesem kurzen Prolog zwei Jahre vorher im ukrainischen Prypjat einsetzt und die Chronologie der Ereignisse minutiös aus der Sicht verschiedener Betroffener erzählt.

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Da ist zum Beispiel die schwangere Ludmilla, die in der Nacht der Explosion mit ihrem Mann Wasilli vom Fenster aus auf einen Feuerstrahl in der Ferne schaut. Wasilli ist Feuerwehrmann und gehört zu den Ersten, die in den Strahlentod geschickt werden. So wie drinnen die Arbeiter im Kraftwerk das Ausmaß wahrnehmen und qualvolle Tode erleiden. In der Führungsebene wird diskutiert, ob Prypjat sofort evakuiert werden sollte. Es wurde nicht. Ganz in der Nähe tanzen Kinder im Strahlenstaub. Die Luft glüht.

Schöpfer von Chernobyl ist Craig Mazin, der jahrelang die Katastrophe erforschte. Für seine Arbeit habe er jede Information verwendet, die ihm zur Verfügung stand, sagte Mazin. Er habe Berichte von Wissenschaftern, der Nuklearbehörde studiert, Audiokassetten gehört und Fotos gesichtet.

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Atomkraftbefürworter

Trotzdem befürworte er Atomstrom, erklärte der 48-jährige Regisseur und Autor. Er sei eine "wichtige Waffe gegen den Klimawandel". Mit Chernobyl wolle er, dass die "Menschen verstehen, warum die Katastrophe passiert ist".

Legassow (Jared Harris), der stellvertretende sowjetische Premierminister Boris Shcherbina (Stellan Skarsgård) und die Kernphysikerin Ulana Khomyuk (Emily Watson) untersuchen, warum der Reaktor vier explodierte. Legassow und Shcherbina sind historische Persönlichkeiten, die Figur der Kernphysikerin steht für viele, die bei der Aufklärung wertvolle Arbeit leisteten. Sie deckten Fehler im Management, Überforderung und interne Konflikte ebenso auf wie ideologisch begründete Entscheidungen, die vorsätzlich verharmlosten.

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Chernobyl ist die erste Koproduktion von Sky und HBO. Der US-Abokanal und Sender von Qualitätsserien wie zuletzt Game of Thrones, Westworld und True Detective bespielt damit gezielt den europäischen Markt. Dem gesteigerten Interesse des Publikums an dystopischen Erzählungen kommt die Serie mit Endzeitbildern von Strahlenstaub und Horrortoden entgegen. Gestern war die Welt noch in Ordnung.

Darüber hinaus wirkt Chernobyl etwas eigenwillig, weil die Darsteller von Russen und Ukrainern in der Serie reinstes Oxford-Englisch reden. Dass untertitelte Originalfassungen selbst bei nichtenglischer Sprache stärker wirken, zeigt Netflix vor.

Foto: HBO / Sky

Chernobyl schildert die Ereignisse dicht wie ein Dokudrama, vielleicht manchmal mit zu hohem pädagogischem Anspruch. Dergleichen zu akzeptieren, traut HBO als Produzent offenbar eher europäischem Publikum zu. Daheim bereitet der Sender gerade die Nachfolge des Fantasyspektakels Game of Thrones vor: Die Comic-Adaption von Watchmen mit Jeremy Irons und Don Johnson soll ab Herbst folgen. (Doris Priesching, 14.5.2019)