Lange Zeit schien es so, als würden die EU-Wahlen in diesem Jahr auch bei der neunten Auflage seit der Einführung der Direktwahl 1979 den gewohnten Verlauf nehmen – trotz aller Aufregung um die Teilnahme der Briten, trotz Brexits.

Wie vor fünf Jahren zeichnete sich zwar erneut eine Stärkung des Lagers der EU-skeptischen, der rechtspopulistischen bis extrem rechten Parteien ab. Diese sind aber sehr länderspezifisch und untereinander nur in ihrer Ablehnung der tieferen Integration der Union wirklich einig. Machtpolitisch und inhaltlich können sie keine Kursänderung herbeiführen. Kein Wunder bei einer "nationalistischen Internationalen" in Europa: Sie finden in anderen Lagern keine Partner.

So zeichnete sich für den Tag nach dem Wahlsonntag ab: Christdemokraten und Sozialdemokraten würden sich praktisch automatisch wieder zusammentun, um am Programm für die Legislaturperiode bis 2024 zu arbeiten. So wie 2014, als der Zweitplatzierte, der sozialdemokratische Spitzenkandidat Martin Schulz, zwar ein paar Stunden lang versuchte, eine "alternative Mehrheit" zu beschwören. Er schwenkte aber bald auf einen Pakt mit Jean-Claude Juncker ein.

Echter Kampf um Macht sieht anders aus

Sosehr sich die schwarz-roten Spitzenkandidaten Manfred Weber und Frans Timmermans alle Mühe geben, ihre Unterschiede herauszuarbeiten: Ein echter Kampf um Macht sieht anders aus. Europas Sozialdemokraten schienen chancenlos, erwarteten eine herbe Niederlage.

Diese Lage hat sich plötzlich durch den von Frankreichs Staatspräsident durchgeboxten Wahl-Coup mit den Liberalen geändert. Er bricht die EU-Verhältnisse auf. Plötzlich scheint es (rechnerisch) möglich, dass eine breit aufgestellte "Regenbogenfraktion" in Straßburg eine neue Mehrheit bilden könnte, die dann den Kurs der Kommission und ihres Präsidenten bestimmt. Sie würde zwar von Zentristen getragen werden, als offene Plattform aber alle politischen Facetten von rechtsliberal bis ganz links ansprechen wollen. In Frankreich nennen sich die Träger programmatisch "Renaissance". Eine Wiedergeburt, den Aufbruch, die Erneuerung wollen sie nun auch der EU, der Demokratie, der Stärkung des Gemeinsamen angedeihen lassen.

Verrücktes Vorhaben

Auf den ersten Blick erscheint ein solches Vorhaben verrückt. Wie soll eine liberale Fraktion, die bisher nur viertstärkste in Straßburg war und selber in einen links- und rechtsliberalen Flügel gespalten war, mit Macron ein solches Kunststück gelingen?

Wie sollen die ideologischen Unterschiede überbrückt werden, etwa zwischen griechischen Linken und den niederländischen Rechtsliberalen von Premierminister Marc Rutte, der sich Macron angeschlossen hat?

Auf eine direkte Weise – über den Zusammenschluss zu einer "Großfraktion gegen rechts", wie manche vermuten – geht es sicher nicht. Aber wenn es den "progressiven Partnern", wie sie sich nennen, gelingt, zwei, drei große Trägerprojekte als Säulen der Zusammenarbeit zu definieren, könnte eine Kooperation funktionieren.

Indem wenige, aber klare Prioritäten gesetzt werden: Klimaschutz und Ökologie, Fairness und Wettbewerb, Chancen für die Jungen in sozialer Hinsicht und auf dem Arbeitsmarkt als gemeinsames Ziel – und Mut zur Reform.

Erste Prognosen zur "Renaissance" zeigen: Der Regenbogen käme nahe an die Mehrheit im EU-Parlament heran, was wechselnde Mehrheiten in den nächsten fünf Jahren verheißt. (Thomas Mayer, 13.5.2019)