Die Gruppe Hatari aus Island ist der meistdiskutierte Act des ersten Song-Contest-Semifinales am Dienstagabend. Andere galten bereits vorher als Fanfavoriten, etwa Zypern oder Griechenland, andere wiederum konnten erst bei den Proben so richtig überzeugen, etwa Australien.

Österreich ist bei diesem Semifinale noch nicht dabei und somit auch nicht stimmberechtigt, daher kann man sich den heutigen Abend ganz entspannt gönnen, ohne SMS oder Anruf. Die Zuschauer in Frankreich, Spanien und dem Gastgeberland Israel dürfen dagegen heute mitentscheiden, welche zehn Acts ins Finale kommen und welche sieben Delegationen wieder nach Hause fliegen müssen. Und sollten Sie auf einem TV-Sender ohne Werbepause schauen, werden Sie Dana International, die Gewinnerin von 1998, wiedersehen – und vielleicht sogar wiedererkennen.

1. Zypern: Tamta – "Replay"

Tamta ist gebürtige Georgierin, war zuerst Putzfrau und begann ihre Karriere in Castingshows. Mittlerweile ist sie in Griechenland ein Superstar und eine Fashion-Ikone. Auf die Frage, ob das Gerücht stimme, sie habe zwölf Koffer mitgenommen, meinte sie entrüstet: "Nein, nur acht, aber man muss halt für jede Gelegenheit das Passende dabeihaben." Da eine Teilnahme für Griechenland nie zustande kam, singt sie dieses Jahr ihren Disco-Kracher Replay für Zypern. Routiniert, stark, aber nicht immer überzeugend. Ein zweites Fuego, das voriges Jahr Zypern den zweiten Platz brachte, ist dieses Jahr nicht zu erwarten. Tipp: weiter!

2. Montenegro: D-Mol – "Heaven"

Die Band D-Mol wurde 2018 von Danijel Alibabić in seiner Musikschule zusammengestellt. Alibabić war 2005 beim Song Contest als Teil der Band No Name dabei, danach gründete er seine Schule. Der Band ist die Herkunft anzumerken. Outfit, Gesang und Song machen tatsächlich den Eindruck, man sieht einer bemühten Truppe zu, die für den Maturaball eine kleine Einlage einstudiert hat. Tipp: raus.

3. Finnland: Darude feat. Sebastian Rejman – "Look Away"

Der finnische DJ Darude hatte 1999 mit Sandstorm einen Welthit, blieb aber ein One-Hit-Wonder. Also packte Finnland den etwas vergessenen Elektroniker wieder aus und schickt ihn mit dem Sänger Sebastian Rejman auf die Bühne. Raus kam ein etwas aus der Mode gekommener Dance-Track. In dem Song geht es um Umweltschutz. Das Anliegen hätte wohl mehr Nachhaltigkeit verdient. Man hat ihn nach dem Hören auch schon wieder vergessen. Tipp: raus.

Akrobatische Performance auf drehenden Stangen: Popera aus Australien.
Foto: EBU/Andres Putting

4. Polen: Tulia – "Fire of Love (Pali się)"

"Weißer Gesang" wird diese in vielen Ländern Osteuropas gepflegte Tradition des Gesangsstils genannt, der durch das Zwerchfell und maximal geöffneten Kehlkopf entsteht und mehr gepresst als gesungen wird. Tulia sind sehr bekannte Vertreterinnen dieses Genres. In ihrem Song verknüpfen sie es mit zeitgenössischen Sounds, sehen mit ihrem Blumenschmuck wirklich toll aus. Wenn man so was mag ... Tipp: weiter!

5. Slowenien: Zala Kralj & Gašper Šantl – "Sebi"

Das Duo fand sich auf Instagram und begann durchaus erfolgreich Musik zu machen. In der slowenischen Vorausscheidung gewannen sie eher überraschend, denn der Song kommt ganz unspektakulär und leise daher – und fällt gerade deshalb positiv auf. Entspannter Chill-out-Indie, sie stehen lieb auf der Bühne und machen so wenig wie möglich. Gar keine schlechte Strategie. Ob das reicht? Tipp: Wackelkandidaten, eher weiter.

6. Tschechien: Lake Malawi – "Friend of a Friend"

Die Band wurde im September 2013 in Třinec von dem Sänger Albert Černý gegründet und feierte mit ihrem Debütalbum Surrounded by Light im Nachbarland bereits Erfolge. In einem europaweiten Onlinevoting konnten sie die tschechische Vorausscheidung mit dieser fröhlichen, leichtfüßigen und sehr radiotauglichen Popnummer gewinnen. Auch die Bühnenpräsenz ist angenehm unprätentiös. Tipp: weiter!

7. Ungarn: Joci Pápai – "Az én apám"

Wenn man ein zweites Mal zum Song Contest kommt, sollte man das immer mit einem noch besseren Song tun. Joci Pápai, Spross einer sehr musikalischen Roma-Familie, beeindruckte bereits 2017, sein diesjähriger Song erreicht diese Stärke leider nicht ganz. Man glaubt ihm aber jedes Wort – auch ohne eines zu verstehen. In dem Song besingt er Vater-Sohn-Beziehungen. ESC-Fans waren europaweit aufgerufen, Fotos ihrer Väter einzusenden, die im Hintergrund eingeblendet werden. Tipp: Wackelkandidat, eher raus.

8. Weißrussland: Zena – "Like It"

Sie moderierte den Junior Eurovision Song Contest 2018 und ist in ihrer Heimat eine bekannte Schauspielerin und Sängerin. Der Song klingt wie etwa dreihundertfünfundfünfzig andere ESC-Songs aus den letzten zwei Jahrzehnten, nur eine Spur mauer. Perfektes Lied für die Pinkelpause. Tipp: raus.

BDSM-Ästhetik, Antikapitalismus und Hass. Schreit sich Island ins Finale?
Foto: EBU/Thomas Hanses

9. Serbien: Nevena Božović – "Kruna"

Die Sängerin stammt aus Mitrovica, einer mehrheitlich serbischen Stadt, die heute im Kosovo liegt. Sie war als Teil eines Trios bereits 2013 beim Eurovision Song Contest dabei, 2019 versucht sie es solo mit einer klassischen Balkanballade. Von diesem Genre haben wir aber schon Besseres gehört und gesehen. Sie sieht toll aus, sie singt schön, für so etwas gibt es Fans. Tipp: Wackelkandidatin, eher weiter.

10. Belgien: Eliot – "Wake Up"

Eliot Vassamillet ist Jahrgang 2000 und Schüler. Sein Song Wake Up wurde von Pierre Dumoulin geschrieben, der 2017 sehr erfolgreich war. Mit dem Song City Lights, gesungen von Blanche, erreichte er damals einen vierten Platz. Diese Qualität kann Wake Up zwar nicht ganz erreichen, besticht aber durch radiotauglichen Pop. Der Refrain hat aber gewisse Schwächen, weswegen es fraglich ist, ob wir den Song am Samstag noch einmal hören werden. Obwohl ich den Song gerne in meiner Playlist habe. Tipp: Wackelkandidat, eher raus.

11. Georgien: Oto Nemsadze – "Keep on Going"

Oto Nemsadzes Song hat zwar einen englischen Titel, wird aber auf Abchasisch und Georgisch gesungen. In Osteuropa ist die Reibeisenstimme durchaus bekannt, denn er gewann sowohl eine Castingshow in der Ukraine als auch in seiner Heimat Georgien. Die Inszenierung ist stärker als der Song. Eine sehr maskuline und starke Performance, in der er uns in die Bergwelt des Kaukasus entführt. Tipp: weiter!

Kunst zwischen Fado und Weltmusik.
Foto: EBU/Thomas Hanses

12. Australien: Kate Miller-Heidke – "Zero Gravity"

Popera-Acts, die Pop und Oper kombinieren, hatten wir schon mehrmals beim Eurovision Song Contest, meist mit mäßigem Erfolg, sieht man von Il Volo (Italien 2015) einmal ab. Kate Miller-Heidke ist ausgebildete klassische Sängerin, fand aber schnell den Weg in die Popwelt. Eigentlich kam sie als Außenseiterin nach Tel Aviv, ist ihr selbstkomponierter Song, der von postnatalen Depressionen handelt, doch ein bisschen – nun ja – schräg. Schräg wollte sie dann auch auf der Bühne stehen beziehungsweise pendeln. Die sensationelle und akrobatische Inszenierung auf Stangen macht alle Schwächen so was von wett. Geniale Inszenierung, und erstaunlich, dass sie bei diesen Stunts noch singen kann. Tipp: weiter!

13. Island: Hatari – "Hatrið mun sigra"

Hatari sind in Island mit satirischem Industrial-Techno und BDSM-Outfits bereits recht bekannt. Eigentlich wollte sich die Band 2018 auflösen, weil sie ihr eigentliches Ziel nicht erreicht hatte: den Kapitalismus zu stürzen. Dieses Ziel verfolgen sie aber weiterhin, der Auftritt beim ESC ist nur ein weiterer Schritt zum Ende des Kapitalismus. Ihr Song Hass wird siegen ist eine Art Bestandsaufnahme des kapitalistisch geprägten Europa, die uns sagen will: Wir sind ganz schön am Arsch. Proteststimmen dürften Hatari aber sicher sein und sie weiter nach vorne katapultieren. Die Leder-und-BDSM-Performance ist aber auch wirklich gut! Tipp: weiter!

14. Estland: Victor Crone – "Storm"

Victor Crone wollte schon mehrmals sein Heimatland Schweden vertreten, scheiterte aber beim dortigen Melodifestivalen. Mittlerweile lebt er schon längere Zeit in Estland und gewann deutlich die dortige Vorausscheidung. Der Song klingt wie eine typische Song-Contest-Reißbrettnummer und wurde auch genauso inszeniert. Jede Bewegung wirkt einstudiert, keine wirkt authentisch. So rund um 2008 wäre das noch ins Finale gekommen. 2019 wirkt so etwas schon mehr wie ein verhaltenes Lüfterl als wie ein Sturm. Tipp: raus.

Zeitgemäßer Pop, etwas überinszeniert.
Foto: EBU/Andres Putting

15. Portugal: Conan Osíris – "Telemóveis"

Achtung, jetzt kommt Kunst. Zeitgenössische Kunst. Und wie das auf Vernissagen oft so ist, wird das hier auch passieren: Ein Viertel des Publikums bewundert aufrichtig das Kunstwerk, während die anderen drei Viertel nur so tun als ob. Der Sänger heißt eigentlich Tiago Miranda und arbeitete bis vor kurzem noch in einem Sexshop. Sein Album Adoro Bolos (Ich liebe Kuchen) schlug in Portugal ein wie eine Bombe. Conan Osíris verknüpft portugiesischen Fado mit asiatischen, orientalischen und afrikanischen Elementen und macht etwas völlig Neues daraus. Auch seine Inszenierung mit dem Tänzer João Reis Moreira kombiniert archaische Moves und kunstvollen Schmuck wie aus einem Archäologiemuseum mit modernem Tanz. Das Ganze dann noch in den portugiesischen Nationalfarben Grün und Rot. Sperrig, aber es hat schon was. Tipp: der unberechenbarste Beitrag. Weiter!

16. Griechenland: Katerine Duska – "Better Love"

Katerina Duska ist als Kind griechischer Migranten in Kanada geboren und aufgewachsen, lebt aber inzwischen in Athen. Leon of Athens hat ihr den sehr zeitgenössischen Song Better Love geschrieben. Man mag es nicht glauben: keine Ethno-Elemente, kein Bouzouki-Intermezzo, sondern purer Pop, was Griechenland uns dieses Jahr liefert – und guter noch dazu. Ihre dunkle Stimme ist hinreißend und enorm beeindruckend. Nach meinem Geschmack ist die Inszenierung überkandidelt, der Song hätte weniger vertragen. Tipp: weiter!

17. San Marino: Serhat – "Say Na Na Na"

Ahmet Serhat Hacıpaşalıoğlu stammt aus Istanbul, und so wird die Türkei, die seit 2013 nicht mehr mitmachen will, indirekt doch vertreten. Serhat wird zum zweiten Mal teilnehmen. 2016 in Stockholm vertrat der Moderator der türkischen Ausgabe von Jeopardy und zahlreicher anderer Shows das kleine Apennin-Land bereits mit I Didn't Know, verpasste als Zwölfter allerdings knapp das Finale. Eine neu eingesungene Version mit Martha Wash von den Weather Girls wurde dann ein Überraschungserfolg in den Dancefloor Billboard Charts in den USA. 2019 also geht Serhat mit dem Retro-Disco-Song Say Na Na an den Start. Mein Guilty Pleasure, denn ich bin mittlerweile ein richtiger Serhat-Fan! Immer gut angezogen, der fesche Mann! Herrlich abstruse Texte, die sicherheitshalber auch für den Karaoke-Abend eingeblendet werden. Mit dem Finaleinzug dürfte es aber wieder knapp werden. Tipp: leider eher raus, aber darf gerne weiterkommen. Eurovision braucht so was. (Marco Schreuder, 14.5.2019)