Knecht hat dann die Martin-Passage vorgelesen. Eh klar. Vorher hat sie zu mir rübergeschaut und gesagt: "Du musst jetzt stark sein, Rotte." Als Knecht dann blätterte, ahnte ich: Jetzt kommt der Martin. Martin ist im neuen Roman von Doris Knecht einer der nicht ganz so wichtigen, aber doch relevanten Darsteller. Martin läuft. Wie und warum und wie viel und mit wem, beschreibt Knecht in "weg" (so heißt ihr neuer Roman) minutiös. Und ein bisserl hämisch. Natürlich erzählt sie auch, wie das Gerenne vom Martin von seiner Umwelt auf- und wahrgenommen wird. Das ist eigentlich ziemlich lustig.

Außer man sitzt neben Doris Knecht auf einem Podium und die Passage wird mit "Du musst jetzt stark sein, Rotte" eingeleitet.

Dann hält man halt kurz die Luft an und hofft, dass man nicht ganz so rot geworden ist, wie sich der eigene Plutzer gerade anfühlt. Aber: So was halte ich aus. Auch weil es in Wirklichkeit ziemlich leiwand ist, mit Doris Knecht auf einer Bühne zu sitzen.

Foto: thomas rottenberg

Ich bin nicht der Martin. Das weiß ich. Das weiß auch die Doris. Aber einem Saal, der voll mit Menschen ist, die gekommen sind, um Doris Knecht lesen zu hören, ist das egal. Die haben jetzt ihren Spaß. Für den sind sie ja angereist. Nach Tirol. Genauer: An den Achensee. Denn dort, noch genauer – auf der Erfurter Hütte auf nicht ganz 2.000 Metern Seehöhe – las Knecht. Ich saß neben ihr und stellte halbschlaue Fragen. Das war letztes Wochenende meine Job-Description.

Denn bei der Achensee-Literatour durfte ich ein bisserl moderieren. Mittlerweile zum vierten Mal in Folge. (Hashtags: #scheissleben und #haettichbloßwasanstaendigesgelernt.)

Wenn da die Vorlesende beschließt, dich zum Gaudium der Meute derselben zum Fraß vorzuwerfen, dann ist das eben so. Da muss man eben stark sein. Es gibt weit schlimmere Arten, sein Geld zu verdienen – und ganz abgesehen davon hat Knecht mit so ziemlich allem, was sie über den Martin und sein Gerenne schreibt, ja auch recht. Das weiß ich. Obwohl ich nicht der Martin bin.

(Im Bild: Doris Knecht mit den Autoren David Fuchs und Daniel Wisser vor der Erfurter Hütte.)

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Das Gute an Jobs wie dem beim Literaturfest in Achenkirch (unter anderen lasen hier heuer auch Alexa Hennig von Lange, Tanja Maljartschuk, David Fuchs und Daniel Wisser), ist, dass man neben der Leserei auch noch Zeit findet, andere Dinge zu tun. Laufen etwa.

Die Gegend rund um den größten See Tirols ist dafür nachgerade perfekt. Weil man hier von bretteleben-asphaltiert über wellig-waldig bis zu hochalpin-trailig jede Spielart des Laufens zelebrieren kann. Im Vorjahr hat die aus der Region stammende Trail-Prinzessin Denise Goßner mir und Eva hier eine ziemlich traumhafte und auch für Anfänger bewältigbare Trailrunde am Südufer des Sees gezeigt. Für ein Wiedersehen fehlte diesmal die Zeit – und für mitunter doch felsig-ausgesetztes Solo-Trailen ohne Ortskenntnis war das Wetter nicht wirklich gut genug.

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Das, das Wetter nämlich, sollte schlecht sein. Und zwar so richtig. Zumindest hatten das die drei von mir am häufigsten konsultierten Wetterapps unisono vorausgesagt. Auch die Veranstalter, die lokalen Touristiker und ein von mir wegen einer ganz anderen Geschichte kontaktierter Bergführer, versprachen so wie die Bilder der Livecams nichts Gutes: Dass es in den Alpen auch im Mai mitunter schneit, ist nicht weiter überraschend. Aber laut Vorhersagen waren tagsüber Dauer- und Starkregen noch die optimistischste Version. Einzig in der Früh, bestenfalls bis in den mittleren Vormittag, würde es nicht schütten.

Da Harald mir aber unter anderem einen Zweistundenlauf in den Plan geschrieben hatte, musste ich früh raus. Richtig früh, denn nach dem Frühstück geht in Achenkirch vieles, aber laufen sicher nicht.

Foto: thomas rottenberg

Laufen und davor essen ist ein eigenes Thema. Da muss jeder und jede die individuell optimale Abstimmung selbst rauskriegen. Bei mir gilt – im normalen Trainingsbetrieb, nicht im Wettkampfmodus –, dass ich bis zur Halbmarathondistanz und ein bisserl drüber sehr gut nüchtern und (wenn es nicht heiß ist) auch ohne einen Schluck zu trinken auskomme. Ein Espresso schadet nicht. Lockere Läufe gehen nach einem normalen Frühstück auch.

Aber: Das, was in der "Homebase" der Achensee-Literatour, dem Posthotel Achenkirch, standardmäßig kulinarisch aufgefahren wird, hat mit "normal" nichts mehr zu tun. Auch, was Qualität, Variantenreichtum, Hingabe und Verarbeitung angeht – zweieinhalbmal am Tag: Ich esse gerne, wahnsinnig gerne gut. Dinnercanceling geht gar nicht. Auch wenn ich weiß, dass mir das am nächsten Tag die ersten sechs Laufkilometer nachhängen wird. Aber klar ist: Nach dem Frühstück hier laufen geht noch weniger. Ergo: früh raus.

Foto: thomas rottenberg

Achenkirch und der Achensee liegen auf rund 960 Metern Seehöhe zwischen Rofan- und Karwendelgebirge. Für Menschen, die noch Tirol-unkundiger sind als ich: Bezirk Schwaz. Mit der Bahn bis Jenbach. Dann ein paar Serpentinen hinauf – und: Bumm. Da wo der Städter dann nur schroffes Bergpanorama und alpin-zerklüftet-steil-enge Kerbtäler erwarten würde, wird die Landschaft plötzlich auch weit.

Die Berge sind – selbstverständlich – auch wild, schroff und ansichtskartenkompatibel tirolerisch, aber wer nicht mit dem See (mit fast sieben Quadratkilometern Fläche eben Tirols größter) rechnet, wird von der Weite der Landschaft meist geplättet: Hier geht auf recht konzentriertem Raum so ziemlich alles, was man im Freien nur machen wollen können könnte.

Foto: thomas rottenberg

Auch auf und am Wasser. Bis zu 130 Meter ist das "Tiroler Meer" tief. Die Unterwassersicht soll phantastisch sein. Über Wasser ist sie es in jedem Fall. Die Windverhältnisse machen hier oft Kitesurf-Sprünge und -Manöver möglich, die auch überzeugte Neusiedler-See-Kite-Bums respektvoll nicken lassen.

Schwimmen? Acht Grad, sagte die TVB-Homepage. Auch im Hochsommer kratzt die Wassertemperatur nur selten an der 20-Grad-Marke. Ich war in Cesenatico vorletzte Woche bei 14 bis 16, letzte Woche dann im Korneuburger Berndlbad bei (angeblich) 11 bis 12 Grad im Wasser. Mit Neo, eh klar – und permanent in Bewegung. Und lediglich 30 Minuten am Stück. Das geht gut. Aber sub 20 Grad beim Sommerplantschen? Vielleicht sogar noch mit Kindern? Das muss man schon wirklich wollen.

(Anmerkung: Das Schwimmverbot auf der Tafel im Bild hat einen anderen, sehr guten Grund. Die Tafel steht an einer Anlegestelle der Achenseeschifffahrt. Hier zu schwimmen wäre in etwa so intelligent wie auf Eisenbahnschienen zu laufen.)

Foto: thomas rottenberg

Aber abgesehen davon geht hier so ziemlich alles: Landschaftserlebnislaufen kann man sowieso immer. Radfahren in jeder Preislage aber auch. Ich hatte heuer – wetterwarnungs-, aber auch bahnanreisebedingt – das Rad daheim gelassen. Voriges Jahr gingen sich aber einige schön-wellige Traumstrecken nach Bayern aus. Familien- und E-Bikeausfahrten auf asphaltierten Nebenwegen oder komfortablen Forstautobahnen gehen sowieso.

Und STANDARD-Mountainbike- und Tirol-Korrespondent Steffen Arora (der zur Knecht-Lesung auf die Erfurter Hütte gekommen war) will mich ohnehin seit ewig von der Straße ins Gelände verschleppen. Hier, meinte er, wäre es ideal. Next time. Versprochen.

Foto: thomas rottenberg

Doch diesmal ging sich bei mir nicht einmal Bergwandern, Klettern oder Skitourengehen (ja, das geht noch), sondern nur – wie ein Teamkollege zu sagen pflegt – das "banale Infanterieprogramm" aus. Spazierenlaufen an zwei Tagen: Am ersten ein 12-k-Tempowechsellauf. Also zwei Kilometer locker, zwei zügig, einer schnell. Dann das Ganze nochmal – und zwei Kilometer gemütliches Auslaufen, bevor das Tagesprogramm beginnt: zwei Lesungen. Ein Interview führen, eines Abtippen. Ein bisserl Lohnschreiberei – und am Abend noch eine Lesung.

Man kann es wirklich schlechter erwischen.

Nebenbei: Tagsüber wechselten sich Sonne und heftige Regengüsse ab.

Foto: thomas rottenberg

Am nächsten Tag stand ein mittellanger Dauerlauf im (hoffentlich) Langstrecken-Wettkampftempo auf dem Plan. Allerdings war das durch gemächliches Ein- und Auslaufen sowie das grandiose Dinner am Abend davor massiv, äh, "gebremst" und die Frühstücksmeetingzeit-Vorgabe meiner Gastgeber leicht verkürzt, weil ich natürlich doch nicht deutlich vor sechs am Morgen losgelaufen war.

Also keinesfalls wild – aber umso schöner. Und wie jedes Mal, wenn ich in einer solchen Hammergegend bin, frage ich mich spätestens nach der dritten Kurve: Wieso lebe ich eigentlich in der Stadt?

Foto: thomas rottenberg

Natürlich gibt es dafür Gründe. Ungefähr 1.000. Nur zählt ab dem Augenblick, in dem die Anfangskälte eines Morgenlaufes nicht mehr beißt, sondern der Körper auf Betriebstemperatur kommt, keines davon.

Sobald das Blei der Nacht aus den Beinen zu schmelzen beginnt, ist da nur noch Freude. Und Staunen. Nicht nur über die Schönheit ringsum. Ich laufe schon das eine oder andere Jahr. Mein Kopf weiß, dass sich dieses "Wie soll dieser träge, müde, kraftlose Körper jetzt nur fünf Minuten traben?"-Gefühl nach zwölf oder 15 Minuten aufgelöst haben wird. Aber dass es tatsächlich so ist, ist dann jedes Mal doch wieder verblüffend: Nach 45 Minuten höre ich in mich hinein, und da ist kein Jammern mehr, sondern nur noch Jubel.

Foto: thomas rottenberg

Es sind Momente und Läufe wie diese, bei denen ich jedes Mal wieder froh bin, "nach Plan" zu laufen. Nicht obwohl, sondern gerade weil das hier keine wie auch immer gearteten "besonderen" oder "schwierigen" Läufe sind. Gerade da macht man gerne genau jene Fehler, die richtig wehtun können.

Denn auch wenn es eine absolute Binsenweisheit ist, die ersten zwei oder drei Kilometer, die erste Viertelstunde, möglichst langsam und "untertourig" zu laufen, ist das "Verzichten" aufs Einlaufen ein Einserfehler etlicher "Jogger".

Foto: thomas rottenberg

Im besten Fall gehen sie dann nach kurzer Zeit ein, sind nach dem dritten Mal frustriert und lassen etwas, was ihnen eigentlich Spaß machen könnte, sehr bald ganz bleiben. Im schlimmsten Fall verletzen sie sich vorher noch.

Es hat einen Grund, dass Formel-1-Reifen vorgewärmt werden. Es hat einen Grund, dass Kader-Skifahrer sich im Startbereich aufwärmen. Es hat einen Grund, dass Radprofis sich vor dem Etappenstart auf der Walze "einrollen". Denn um Leistung nachhaltig abrufen zu können, muss ein Motor warm sein. "Auf Knopfdruck" braucht Vorlauf. Immer.

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Und überall. Am Achensee war die Lauferei einfach nur fein. Weder besonders anstrengend noch besonders aufregend, abenteuerlich oder außergewöhnlich. Wobei das im Auge des Betrachter und im Ausmaß dessen, was man selbst für normal hält, liegt: Wieder im Hotel und geduscht, machte ich mich nach dem Knapp-zwei-Stunden-Lauf auf den Weg zum Frühstück.

Es war kurz nach acht. Am Gang traf ich eine reichlich verschlafene Doris Knecht. "Na, warst schon laufen?", fragte sie mich mehr aus Höflichkeit. Ich war putzmunter. Plapperte los. "Rottenberg, ist dir bewusst, dass normale Menschen um diese Zeit nicht ganz so kommunikativ sind?"

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Zwei Stunden später saßen wir oben auf der Erfurter Hütte. Der Saal war voll. Knecht las. Ich stellte Zwischenfragen. Dann blitzte es in ihren Augen: "Du musst jetzt stark sein, Rotte."

Ich ahnte, was jetzt wohl kommen würde.

Die Martin-Geschichte. Eh klar.

Aber da muss man dann eben durch. (Thomas Rottenberg, 15.5.2019)

Anmerkung im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Thomas Rottenbergs Aufenthalt und Engagement bei der Achensee-Literatour war eine Einladung des Achenseer Tourismusverbandes

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