Angesetzt war die Pinot-noir-Verkostung an einem erstaunlich frischen und nebeligen Frühlingsmorgen im Tal des Russian River im kalifornischen Sonoma County. So kalt war es, dass beinahe der Verdacht aufkommen könnte, die Winzer hätten bewusst so früh am Morgen geladen, um den Besucher aus Übersee mit den niedrigen Temperaturen zu beeindrucken.

Denn in der Tat ist man als Europäer kaum vorbereitet auf derartiges Frösteln im Sonnenstaat Kalifornien. "Unsere Weingärten liegen im kühlsten Teil des Anbaugebietes, nur wenige Meilen entfernt vom Pazifischen Ozean, der Morgennebel sorgt für Feuchtigkeit und Frische, genau das Richtige für 'Cool climate'-Sorten wie Pinot oder Chardonnay", sagt dann auch prompt und mit stolzer Stimme Paul Hobbs, einer der anwesenden Winzer und Gastgeber der Verkostung.

In Kaliforniens Weingütern weht nun ein anderer Wind. Filigrane Weine mit belebender Säure sind angesagt.
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Wer von kühlem Klima und langsamer Reifung spricht, der meint zugleich komplexe, elegante und ausgewogene Weine. Und genau das ist es, was viele Winzer im Russian River Valley, aber auch im gesamten Sonoma County und in ganz Kalifornien heutzutage durch ihre Arbeit zu vermitteln trachten. Das war freilich nicht immer so. Noch vor wenigen Jahren galten kalifornische Cabernet Sauvignons, Zinfandels und Pinots als das genaue Gegenteil. Als schwere und extraktreiche, ja geradezu dickflüssige Fruchtbomben mit hohem Alkoholgehalt und ausgeprägten Noten von Waldbeeren, Unterholz und Eichenfass.

Es waren die Zeiten, als der amerikanische Wein-Journalist Robert M. Parker jr. mit seinem Faible für genau solche Weine und seinem umstrittenen 100-Punkte-Bewertungssystem den Ton angab – und damit Winzer auf der ganzen Welt beeinflusste. Von "internationaler Geschmacksgleichschaltung" war damals die Rede, von "Parkerisation" und sogar von "amerikanischem Wein-Imperialismus".

Rückblick auf ein Vorbild

Und wenngleich das alles wohl etwas übertrieben war, so konnte man doch beobachten, wie zu dieser Zeit etliche Winzer nicht nur in den USA, sondern überall auf der Welt immer öfter Weine erzeugten, die sich dem kalifornischen Vorbild weitgehend annäherten. Darunter auch zahlreiche in den renommiertesten Weinbaugebieten Europas wie etwa dem französischen Bordeaux, wo man sich aus historischen und wirtschaftlichen Gründen seit jeher nach der Nachfrage auf den englischsprachigen Märkten richtete.

Doch sind diese Zeiten freilich längst vorbei. In den angesagten Restaurants von Paris, Tokio, Berlin und Skandinavien werden inzwischen ganz andere Flaschen entkorkt. Solche nämlich, die sich radikal unterscheiden vom besagtem Parker- oder vom Kalifornien-Modell. Im internationalen Trend liegen heute möglichst filigrane Weine, mit viel ausgewogener Säure, mit starkem Charakter und unverwechselbarem Geschmack, am besten aus längst vergessenen und als "schwierig" geltenden Traubensorten gekeltert; und im Idealfall auch noch möglichst naturnahe und umweltfreundlich erzeugt.

Zumindest einige dieser Aspekte treffen auch aufs Weingut Paul Hobbs zu. "Wir setzen bei unseren Weinen auf Spontanvergärung, arbeiten also ausschließlich mit bereits im Weinberg vorhandenen Hefen und nicht mit solchen, die im Handel erhältlich sind. Außerdem verzichten wir auf Pflanzenschutzmittel, auf Enzyme, auf jede Art von Schönungsmittel und filtern auch nicht", so der Weinmacher.

Paul Hobbs setzt für seine Weine auf Spontanvergärung mittels natürlicher Hefen aus seinen Weinbergen.
Foto: Paul Hobbs Winery

Dass sich die Nachfrage inzwischen auch auf dieser Seite des Atlantiks verändert hat, bestätigen die anwesenden Winzer. "Es stimmt schon, dass auch in den USA der Markt gesplittet ist", sagt etwa der Winzer David Amadia, "zwar herrscht nach wie vor eine starke Nachfrage nach sogenannten Big Wines, vor allem nach Cabernet Sauvignon aus dem Napa Valley. Doch eine wachsende Zahl an jüngeren kalifornischen Winzern bemüht sich heute, Weine mit weniger Alkohol zu erzeugen, mit besserer Balance und mehr Finesse." Und selbst wenn es sich dabei in der Regel um kleinere Weingüter handle, so hätten diese doch eine ziemlich große und wachsende Anhängerschaft, sagt Amadia, der das angesehene Weingut Ridge Vineyards in Healdsburg leitet, gute 30 Kilometer staataufwärts vom Weingut Paul Hobbs gelegen.

Die Weine von Winzer David Amadia spiegeln seit jeher die Charakteristik der jeweiligen Weinberge wider.
Foto: georges desrues

Bekannt sind die zum Großteil biologisch erzeugten Weine von Ridge auch dafür, dass sie schon in der Vergangenheit als Ausnahme galten und sich deutlich abhoben von den in Kalifornien weitverbreiteten Fruchtbomben. "Bereits zu Zeiten der Gründung von Ridge, also in den frühen 1960er- Jahren, erzeugten wir vornehmlich ausgewogene Lagenweine", fährt Amadia fort, "und als sich dann in den frühen 1990ern der reifere, schwere Weinstil in Kalifornien durchzusetzen begann, ließen wir uns nicht beirren und gingen weiter unseren Weg, indem wir Weine erzeugen, in denen sich die einzelnen Charakteristiken ihrer jeweiligen Weinberge widerspiegeln."

Inzwischen ist es Vormittag geworden, und der Nebel hat sich aus dem Tal des Russian River verzogen, zunehmend beginnt die Sonne zu wärmen. Spätestens zur Mittagszeit wird sie ungehindert die Weinberge aufheizen. Ab dann ist die morgendliche Kälte nur mehr Erinnerung – und die gelegentlich auftretende Brise vom nahen Pazifischen Ozean eine willkommene Abkühlung.

Keine Gefahren im Herbst

Starke Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht gelten als ideale Bedingungen für große Weine. Doch der wichtigste Faktor bleibt der Zeitpunkt der Ernte. In weniger sonnenverwöhnten Weinbaugebieten wie Österreich oder auch im Burgund, der ursprünglichen Heimat des Pinot noir, kommt es immer wieder zu kühleren und damit "schwierigeren" Jahrgängen, in denen die Trauben nur mit viel Mühe das nötige Reifestadium erreichen. Dann muss der Winzer die heikle Entscheidung treffen, ob er mit der Ernte noch zuwartet und so das Risiko von Herbstregen und Kälteeinbruch eingeht. Hier aber, im sonnenreichen und weitgehend trockenen Kalifornien, ist die Situation eine völlig andere.

Hier können die Trauben gefahrlos bis spät in den Herbst hinein hängen. Weswegen noch bis vor einigen Jahren zahlreiche Winzer auch im Sonoma County erst äußerst spät mit der Ernte begannen. Eben mit der Absicht, möglichst gehaltvolle, fruchtige und alkoholreiche Weine zu erzeugen. Das Resultat waren Pinot noirs, die kaum bis gar nichts mehr zu tun hatten mit den Qualitäten, die dieser delikaten Traube üblicherweise zugesprochenen werden.

Weinerlebnis für Hipster

Ganz anders die eleganten Weine vieler Winzer aus dem Russian River Valley und Sonoma. Unter ihnen auch Andrew und Adam Mariani. Die beiden fotogenen Brüder zählen zu den sinnbildlichsten Vertretern eines neuen kalifornischen Stils. Und ihre Scribe Winery gehört zu den angesagtesten Destinationen für die Hipster unter den Wein-Fans. Hierher kommt man, um die naturbelassenen Weine zu verkosten, aber auch um auf dem Anwesen gezogenes Biogemüse und Freilandeier zu frühstücken oder Konzerten oder sonstigen künstlerischen Events beizuwohnen. Das alles in einer entspannten Atmosphäre, die in starkem Kontrast steht zu jenen auf den imposanten Weingütern und Chateaux des Napa Valley wie etwa von Robert Mondavi oder Francis Ford Coppola.

"Wir wollen unseren Besuchern die Möglichkeit bieten, einen Bezug zu diesem Ort herzustellen", sagt Adam Mariani, "durch die Weine und das Essen sollen sie eine Verbindung zur Natur und zum lokalen Ökosystem finden. Wir verstehen das als Gegenmodell zu der Internationalisierung, die in der Weinwelt lange vorherrschte."

Andrew und Adam Mariani wollen mit ihren Weinen den Kunden eine Verbindung zur Natur ermöglichen.
Foto: scribe

Anstatt wie einst den Ton anzugeben, folgt heute eine wachsende Zahl von kalifornischen Winzern dem internationalen Trend und setzt auf komplexere, weniger gefällige Weine. Und zudem auf wenn auch nicht unbedingt biologische beziehungsweise biodynamische Anbaumethoden, dann doch zumindest auf reduzierten Chemie-Einsatz, auf spontane Vergärung statt selektierter Hefen und auf zurückhaltenden Zusatz von Schwefel zwecks Konservierung.

Einzig und allein im prestigereichen Napa Valley tut sich in diesem Bereich bisher noch vergleichsweise wenig. Was freilich auch daran liegt, dass sich vor allem konservativere Konsumenten von den Cabernets und Zinfandels aus Napa eben genau diese gewohnte und wuchtige Stilistik erwarten. Was bedeutet, dass viele Winzer sich und ihre Weine gänzlich neuerfinden müssten, wenn sie etwas verändern und auch eine wachsende jüngere und hippere Kundschaft überzeugen wollen. Das ist allerdings eine Fähigkeit, die den Amerikanern im Allgemeinen gerne zugesprochen wird. Weswegen wohl auch im Falle der Weinbauern die Hoffnung lebt, dass es bald dazu kommen könnte. (Georges Desrues, RONDO, 15.9.2019)