Mit leicht kreisenden Bewegungen erwärmt Christine Brugger ein Glas Birnenmost in ihrer Handfläche, dann riecht sie tief hinein. Noch bevor sie den ersten Schluck nimmt, könnte die deutsche Sensorikwissenschafterin allein mit ihren Ausführungen über den Geruch Bände füllen – ein Umstand, der auf ihren Beruf zurückzuführen ist: Wenn Brugger verkostet, dann mit allen fünf Sinnen. Wir trafen sie während eines zweitägigen Besuchs im niederösterreichischen Mostviertel.

STANDARD: Die ideale Trinktemperatur von Most liegt bei acht bis zwölf Grad, unsere Kostprobe aber ist zimmerwarm. Warum?

Christine Brugger: Aromen werden bei Raumtemperatur intensiver wahrgenommen. Grundsätzlich müssen Aromen für mich temperaturunabhängig funktionieren. Durch Kälte kann man Fehler kaschieren. Andererseits kann durch eine leichte Erhöhung der Temperatur zum Beispiel der bittere Geschmack reduziert werden. Bei bittersensiblen Personen kann sich ein nicht ganz kühles Bier höherer Beliebtheit erfreuen. Säure wird immer gleich wahrgenommen, egal ob kalt oder warm. Süße wird durch Wärme intensiver.

Sensorikerin Christine Brugger.
Foto: Mostviertel Tourismus Weinfranz.at

STANDARD: Worin unterscheiden sich Aroma und Geschmack?

Brugger: Im alltäglichen Sprachgebrauch wird wenig zwischen den beiden Begriffen unterschieden. Sensorisch sind es zwei verschiedene Wahrnehmungsebenen. Geschmack bezieht sich auf die Qualitäten süß, sauer, salzig, bitter und umami, die wir auf der Zunge mit den Geschmacksknospen wahrnehmen. Aroma nehmen wir mit der Nase über die Riechschleimhaut oder retronasal, sprich rückwärts über den Gaumen wahr. Aroma ist komplexer, vielschichtiger und direkt mit Erinnerungen und Emotionen verknüpft.

STANDARD: Die Forschung geht davon aus, dass in der Natur eine Million verschiedene Duft- und Aromastoffe existieren.

Brugger: Das stimmt. Allein beim Apfel zählt man 300. Wir sind auch in der Lage, diese Million Stoffe zu riechen – was aber nicht heißt, dass wir sie erkennen und benennen können.

STANDARD: Kann man die Aromawahrnehmung bewusst steuern?

Brugger: Das geht auf unterschiedliche Arten. Säure und Salz sind in richtiger Konzentration Aromaverstärker. Kohlensäure macht das Aroma frischer. Adstringenz verzögert die Aromawahrnehmung. Die Gerbstoffe in adstringierenden Lebensmitteln wie jungen Rotweinen oder Schwarztee führen dazu, dass unser Speichel dicker wird. Wir nehmen das als pelziges, trockenes Mundgefühl wahr. Das Geschmacks- und Aromaerlebnis geht dadurch unter.

STANDARD: Was versteht man unter trigeminaler Wahrnehmung?

Brugger: Die sensorische Komplexität von Produkten setzt sich in der Regel aus Aroma, Geschmack, Textur oder Mundgefühl und eben der trigeminalen Wahrnehmung zusammen. Bei Spirituosen meint man damit zum Beispiel die brennenden, prickelnden, wärmenden, scharfen Wahrnehmungen des Alkohols.

Auch Zwiebelschneiden löst einen trigeminalen Effekt aus. Es ist eine Art Irritation, die wir über einen dreiteiligen Nerv wahrnehmen, der sich vorrangig im Bereich der Augen, Nase und des Gaumens befindet. Neben dem Geschmack und der Viskosität sind die trigeminalen Wahrnehmungen für das typische Mundgefühl verantwortlich.

STANDARD: Das klingt nicht unbedingt nach einer angenehmen Produkteigenschaft.

Brugger: Der trigeminale Effekt ist eigentlich ein Warnhinweis des Körpers. Er reagiert damit auf eine Gefahr bzw. einen Schmerz. Sensorisch lenkt der Trigeminus vom Aroma ab. Man denke an stark prickelndes Mineralwasser: Das stechende Gefühl der Kohlensäure hemmt das Geschmackserlebnis. Treffen zwei trigeminale Effekte aufeinander, etwa Alkohol und Kohlensäure, verstärken sich die Effekte gegenseitig. Unser Körper braucht dann noch länger, um den Effekt vom Gaumen wegzubekommen.

STANDARD: Ist Geschmack altersabhängig?

Brugger: Riech- und Geschmackszellen verändern sich über die Lebenszeit, genau wie andere Zellen. Sinneszellen erneuern sich im Alter langsamer, das heißt, die Fähigkeit, zu riechen und zu schmecken, nimmt ab, sofern sie nicht gefordert wird. Regelmäßiges Training von Geruch und Geschmack leistet einen wichtigen Teil zum Erhalt des sensorischen Könnens. Mein ältester Sensorik-Panelist (ausgebildete Lebensmitteltestperson, Anm.) war übrigens über 80.

STANDARD: Wie könnte so ein Training aussehen?

Brugger: Mit dem aktiven Einsatz unserer Sinne holen wir die unbewusst ablaufenden Eindrücke und Reize ins Bewusstsein. Das kann ich durch Fokussierung auf einen bestimmten Geschmack oder einen bestimmten Geruch tun. In Blindverkostungen fokussiere ich zum Beispiel auf das Aroma, den Geschmack, die Textur oder den Trigeminus. Im direkten Vergleich mit anderen, blindverkosteten Produkten sind die sensorischen Unterschiede einfacher zu entdecken. Probiert werden kann das mit allen Lebensmittel, zum Beispiel Brot, Kaffee, Milch.

STANDARD: Sie haben im Mostviertel versucht, die Sensorik einer ganzen Region zu entschlüsseln. Was haben Sie herausgefunden?

Brugger: Das Mostviertel hat für mich mehrere sensorische Ebenen. Die sensorische "Struktur" hatte in der Verkostung der unverarbeiteten und puren, aber auch der verarbeiteten und fermentierten Produkte aus Birne und Dirndl den größten Anteil. Unter Struktur fasse ich die Gaumenelemente Säure, Süße, Adstringenz bzw. Bitterkeit zusammen. Diese sind in der Region sehr ausgeprägt.

Foto: Niederösterreich Werbung/Stefan Fürtbauer

STANDARD: Ziel war es, den ansässigen Produzenten und Gastronomen Inspiration für neue Produkte zu liefern. Was haben Sie ihnen empfohlen?

Brugger: Wenn Produkte säure- und strukturbasiert sind, kann eine aromatische Ergänzung ein harmonischeres und aromatisch langanhaltenderes Produktprofil ermöglichen. Der Genuss wird intensiver. Bei zukünftigen Produktentwicklungen soll man die aromatischen Facetten des Baumes als Ursprung der Frucht einbeziehen. Birnenkerne haben eine Bittermandelnote, damit lässt sich der Birnensaft mazerieren. Ebenso mit getrockneten und gerösteten Ästen. Die Röstaromatik schafft eine zusätzliche Aromadimension.

STANDARD: Lassen sich daraus auch allgemeine Empfehlungen für den Lebensmittelhandel ableiten?

Brugger: Allgemeine Tipps, Sensorik in der Produktentwicklung einzubeziehen, sind nicht möglich. Jedes Produkt besitzt eine eigene Charakteristik, auf die eingegangen werden sollte und die im Zusammenspiel mit der Lebensmittelbeschaffenheit steht. Nehmen wir einzelne Facetten wie die Temperatur.

Ich kann beispielsweise den Eindruck der Salzigkeit im Gaumen erhöhen, indem ich Käse etwas kühler temperiert serviere. Das hat allerdings zur Folge, dass die Aromatik des Käses etwas zurücktritt. Es ist also jeweils ein Abwägen, welche sensorischen Eigenschaften ich unterstützen, welche ich reduzieren möchte.

Das Ziel von Gastronomen und Lebensmittelproduzenten sollte es aber in jedem Fall sein, genussorientierte Produkte und Gerichte zu entwickeln. Solche, die Aroma, Geschmack, Textur und Trigeminus in Einklang bringen und damit ein langanhaltendes Erlebnis in Nase und Gaumen schenken. Solche, die ein Lächeln ins Gesicht zaubern. (Sonja Planeta, RONDO, 16.8.2019)