Jamala erregte mit dem Lied "1944" Aufsehen, mit dem sie 2016 den Song Contest gewann.

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Dana International, transsexuelle Künstlerin beim Contest.

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Kitsch, Quatsch oder doch Kunst? Am Eurovision Song Contest scheiden sich die Geister – kalt lässt er aber niemanden: Wenn am kommenden Wochenende erneut dieser jährliche Sängerwettstreit – heuer in Tel Aviv – über die Bühne geht, werden wieder Millionen zusehen.

Einer von ihnen ist sicher Dean Vuletic, der das Event aber vor allem aus wissenschaftlichen Gründen beobachtet: Der Geschichtswissenschafter vom Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien hat sich auf die Historie des seit 1956 stattfindenden Wettbewerbs spezialisiert und hat im vergangenen Jahr die erste großangelegte Untersuchung dieser Veranstaltung vorgelegt.

"Popmusik reflektiert mitunter auch den sozialen und politischen Wandel", erklärt der Historiker sein Interesse an einem Forschungsgegenstand. Laut Vuletic sei der Wettstreit aber komplexer als angenommen: "Der Song Contest bietet die Möglichkeit, in jedem Jahr zu betrachten, was sich in Europa gesellschaftlich bewegt. Die Summe der Auftritte erzählt viel über den Zeitgeist."

Für seine Studie, für die der australische Forscher auch vom Österreichischen Austauschdienst (OeAD) gefördert wurde, sichtete er jeden bis 2016 absolvierten Auftritt und analysierte zusätzlich alle zugehörigen Liedtexte.

Dabei setzte er sich auch mit Materialien auseinander, die bisher noch nicht in Betracht gezogen worden waren: die Arbeitsprotokolle der für die Wettbewerbsorganisation verantwortlichen Europäischen Rundfunkunion (EBU). Dabei zeigte sich, dass innerhalb dieser Organisation keineswegs immer Einigkeit herrschte.

Die in dem Bündnis versammelten öffentlich-rechtlichen Fernsehsender stritten immer wieder über den Wahlmodus, das Reglement, die programmatische Ausrichtung und vor allem über die Finanzierung. So unterscheidet sich die 1950 gegründete EBU eigentlich kaum von der EU. Ohnehin wird dieses Rundfunkbündnis immer wieder für eine Vorfeldorganisation des europäischen Staatenbundes gehalten.

Nordafrika ist Mitglied

Das sei aber nicht ganz korrekt, betont Vuletic: Die EBU ist nach wie vor zuallererst als eine technische Kooperation gedacht, die dem Austausch von Technologien und Programmen dient. Zudem zählt die EBU auch Nicht-EU-Staaten wie die Schweiz oder Länder aus Nordafrika und Vorderasien zu ihren Mitgliedsstaaten.

In einer großen Show ist natürlich nichts dem Zufall überlassen, alles wird bis ins kleinste Detail inszeniert: So geben die einzelnen Auftritte laut Vuletic Hinweise auf das Selbstverständnis der jeweiligen Staaten. Das sei bereits im ersten Jahr des Wettbewerbs zu beobachten gewesen: Dass damals für Deutschland der Holocaust-Überlebende Walter Andreas Schwarz antrat, sollte ein Signal an die Nachbarstaaten sein, dass von der BRD keine Bedrohung mehr ausgehe.

Vuletic berichtet, dass insbesondere der ORF den Song Contest häufig nutzte, um sein Land als divers und weltoffen darzustellen – lange vor Conchita Wurst. So sang 1963 mit Carmela Corren die erste Israelin beim Wettbewerb nicht für ihr Heimatland, sondern für Österreich.

Israel gab sich wiederum fortschrittlich, als man 1998 mit der späteren Siegerin Dana International die erste transsexuelle Künstlerin in der Geschichte des Wettbewerbs an den Start brachte. Der gesellschaftliche Wandel zeigte sich somit vordergründig anhand der auftretenden Künstler.

In den Liedtexten waren politische Inhalte lange kaum zu finden – Ein bisschen Frieden (1982) ist da schon eine der Ausnahmen. Die EBU versuche bis heute, die Inhalte möglichst apolitisch zu gestalten, sagt Vuletic.

Zunehmende Demokratisierung

Durch eine zunehmende Demokratisierung des Nominierungsverfahrens ist das aber nicht mehr gänzlich zu verhindern: So sorgte 2016 die ukrainische Sängerin Jamala mit ihrem Lied 1944 über Deportationen in der Sowjetunion auch angesichts des Krim-Konflikts für Wirbel – und gewann. Der Siegertitel Toy des vergangenen Jahres ist von der #MeToo-Bewegung inspiriert.

Die politische Wirkungsmacht des Contest hält Vuletic dennoch für beschränkt: Der Wettbewerb bilde eher Veränderungen ab, anstatt dass er sie auslöse. So habe die erhoffte Liberalisierung des autoritären Aserbaidschans durch dessen Gastgeberschaft 2012 nicht stattgefunden.

Mit dem Sängerstreit in totalitären Regimen beschäftigt sich Vuletic auch in seiner jüngsten Untersuchung im Song-Contest-Umfeld, für die er derzeit als Lise-Meitner-Stipendiat des Wissenschaftsfonds FWF forscht: In den Staaten des Warschauer Pakts setzte man dem Sängerwettstreit den Intervision-Liederwettbewerb entgegen.

Diese Vorführungen waren aber keineswegs kommunistische Propagandaveranstaltungen: Die Wettbewerbe waren vielmehr der Versuch, Ost und West zusammenzubringen. So wurden auch Künstler von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs eingeladen, was beim Song Contest dagegen keine übliche Praxis war.

Der Intervision-Wettbewerb wurde zweimal gestartet: in den 1960er- und in den 1970er-Jahren. Die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 in Tschechien und die Verhängung des Militärrechts 1980 in Polen bedeuteten jeweils das Aus nach nur kurzer Zeit. (Johannes Lau, 15.5.2019)