Alle Wahlen wieder bieten Zeitungen und Plattformen ihren Nutzerinnen und Nutzern Wahlkabinen und Wahl-O-Meter an. In der Fachsprache nennt man dies Voting Advice Application (VAA). Sie ermöglichen eine beinahe spielerische Annäherung an die relevanten Themen und wahlwerbenden Parteien. Dass dahinter ernsthafte Sozialforschung und Teams an Wissenschafterinnen und Wissenschaftern stehen, die die Inhalte und den Aufbau der VAAs konzipieren, bleibt den Bürgerinnen und Bürgern oft verborgen. Bei den Europawahlen kommt hinzu, dass die Politikwissenschafterinnen und Politikwissenschafter europaweit zusammenarbeiten müssen. Immerhin sollen die Fragen so gestellt werden, dass sie in allen Mitgliedsländern inhaltlich gleich sowie überall verständlich sind und auch alle wesentlichen Themen abdecken.

Im Vorfeld der diesjährigen Europawahl arbeiteten gleich zwei Teams der Politikwissenschaft der Universität Salzburg an zwei unterschiedlichen elektronischen Wahlhilfen. Der sogenannte Voteswiper, an dem Journalistinnen und Journalisten, Studierende, App-Entwicklungsteams, Grafiker und Grafikerinnen und zahlreiche Freiwillige mitwirkten, wurde gemeinsam mit anderen Universitäten erstellt. Dieser wird derzeit in 13 EU-Mitgliedstaaten angeboten, und mehrere Kollegen der Universität Salzburg waren für die Konzipierung der österreichischen Wahlhilfe verantwortlich.

Eine weitere, noch umfangreichere Plattform, die in allen EU-Mitgliedsländern zur Anwendung kommt, ist Euandi ("EU-and-I"). Bereits seit 2009 bietet diese europaweite Wahlhilfe EU-Bürgerinnen und -Bürgern Informationen über die inhaltliche Ausrichtung der antretenden Parteien und ist somit einzigartig in ihrer geografischen Reichweite. Nutzerinnen und Nutzer können ihre Präferenzen nämlich nicht nur mit den nationalen Parteien, sondern mit allen Parteien in den EU-Mitgliedstaaten abgleichen. Unter Führung des Europäischen Hochschulinstituts Florenz hat in diesem Jahr ein Team von Politikwissenschafterinnen und Politikwissenschaftern der Universität Salzburg an Euandi mitgearbeitet. Doch was steckt hinter dieser spezifischen Wahlhilfe, und wieso ist Euandi sowohl für Bürgerinnen und Bürger als auch für die Demokratie in Europa von so enormem Wert?

Wie funktioniert Euandi, und wie werden Parteien positioniert?

Damit sich die Nutzerinnen und Nutzer darüber informieren können, welche Partei ihnen bezüglich einer Reihe von wichtigen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Themen am nächsten steht, wurden die Parteien positioniert – lange bevor Euandi online ging.

Dazu hat das Team der Universität Salzburg mithilfe von Wahl- und Parteiprogrammen überprüft, inwiefern die Positionen einzelner Parteien mit 22 politischen Aussagen übereinstimmen oder eben nicht. Um Parteipositionen so exakt wie möglich zu erfassen, haben wir den Parteien in einem zweiten Schritt die Möglichkeit gegeben, sich selbst zu positionieren, also uns mitzuteilen, welche Haltung sie zu den 22 Aussagen einnehmen. Abschließend haben wir die eigenen Kodierungen mit den Selbstpositionierungen abgeglichen und die finalen Positionen eingetragen. Neben diesen Positionen stehen den Nutzerinnen und Nutzern von Euandi die Belege und Begründungen der Parteien für die jeweiligen Positionen zur Verfügung. Auf diese Weise wurden alle Parteien kodiert, die entweder mindestens einen Sitz im europäischen oder dem nationalen Parlament besitzen oder in aktuellen Umfragen bei mindestens ein Prozent liegen: In Österreich trifft dies auf ÖVP, SPÖ, FPÖ, Neos, die Grünen sowie die unabhängige Initiative Europa Jetzt zu.

Wenn Bürgerinnen und Bürger Euandi nutzen, um eine möglichst inhaltlich nahestehende Partei zu finden, werden ihnen dieselben 22 politischen Aussagen präsentiert. Zu diesen können sie ihre Zustimmung auf einer Skala von "Stimme überhaupt nicht zu" bis "Stimme vollkommen zu" angeben. Nach Beantwortung der Fragen haben sie die Möglichkeit, Themenschwerpunkte zu setzen und bestimmte Fragen besonders zu gewichten. Basierend darauf berechnet Euandi, welche Partei den eigenen Präferenzen am ehesten entspricht, und bietet damit eine einfache Möglichkeit für Bürgerinnen und Bürger, sich einen Überblick über die antretenden Parteien zu verschaffen. Dies ist gerade bei Europawahlen ausgesprochen wichtig, bei denen über 300 Parteien in 28 Ländern antreten. Denn eine der interessantesten Funktionen von Euandi ist der Vergleich der eigenen Position mit denen aller europäischen Parteien. Dies verdeutlicht die Relevanz dieses Projektes für die Demokratie in Europa.

Wie sollen wir bei EU-Wahlen wählen? Online-Wahlhilfen können bei der Entscheidung unterstützen.
Foto: APA/dpa/Boris Roessler

Was macht die Europawahlen 2019 wichtig?

Die Europawahlen 2019 finden in einem Kontext beispielloser Politisierung der europäischen Integration und nach einem Jahrzehnt wirtschaftlicher und politischer Krisen statt: Nach der Krise der Eurozone kam die sogenannte Flüchtlingskrise; und seit zwei Jahren setzt sich die Union mit dem ersten Austritt eines Mitglieds (Brexit) auseinander. Von mehreren Mitgliedstaaten werden umfassende Reformen der EU gefordert, um das demokratische Abdriften einiger Länder zu verhindern und den Zusammenhalt der Union zu stärken.

Eine logische Schlussfolgerung aus der Politisierung Europas ist die Wichtigkeit angemessener politischer Repräsentation der Bürgerinnen und Bürger auf der EU-Ebene. In dieser Hinsicht ist das Europäische Parlament – die einzige EU-Institution, deren Zusammensetzung direkt von den Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern gewählt wird – von großer Bedeutung. Die Befugnisse des Parlaments wurden mit den Reformen im Lissabon-Vertrag 2009 noch weiter ausgebaut, sodass es mittlerweile zu einem gleichberechtigten Partner neben dem Rat wurde. Im Zuge der Nominierung von Spitzenkandidaten während der Europawahl 2014 wurde sogar dessen Zusammensetzung mit der Kommissionspräsidentschaft verknüpft.

Die Vertretung von den Stimmen der Bürgerinnen und Bürger im Europäischen Parlament ist jedoch das Ergebnis eines komplexen Prozesses: Europäische Wahlen sind auf nationaler Ebene organisiert. Alle fünf Jahre entscheiden sich Bürgerinnen und Bürger zwischen den Kandidatinnen und Kandidaten, die von den nationalen Parteien präsentiert werden. Nach den Wahlen ordnen sich die Europaabgeordneten jeder nationalen Partei neu in europäische Parteigruppierungen ein, um Politik zu entwickeln und Entscheidungen zu treffen, welche die gesamte Unionsbürgerschaft betreffen. Darüber hinaus erfordert die Vertretung von Bürgerinnen und Bürgern im Europäischen Parlament einerseits, dass die Bürgerinnen und Bürger für die ihnen am nächsten stehende nationale Partei stimmen, und andererseits, dass die nationalen Parteien sich mit den ihnen ideologisch übereinstimmenden anderen europäischen Parteien zusammenschließen. Unsere Forschung an der Universität Salzburg zeigt, dass trotz der Komplexität dieser Repräsentationskette auf mehreren Ebenen Parteien in der Lage zu sein scheinen, die Bürgerinnen und Bürger der Union zu vertreten. Im Jahr 2009 galt das hauptsächlich für die breite links-rechts-ideologische Dimension und weniger für die Fragen der europäischen Integration. Da diese Fragen durch die starke Politisierung des Europa-Themas viel wichtiger geworden sind, ist sowohl die Differenzierung zwischen als auch die Kohärenz innerhalb europäischer Parteigruppierungen im Europäischen Parlament gestiegen.

Beitrag zur Demokratie in Europa?

Euandi ist eine paneuropäische Onlinewahlhilfe, die europäischen Bürgerinnen und Bürgern einen Überblick über die Positionen von nationalen Parteien anbietet. Dies ist umso relevanter, wenn man bedenkt, dass ohne "richtige" Entscheidungen der Wählerinnen und Wähler (das heißt, auf Grundlage ihrer tatsächlichen inhaltlichen Präferenzen) ihre Meinungen und Wünsche im Europäischen Parlament nicht vertreten werden. Euandi ermöglicht somit allen Bürgerinnen und Bürgern, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, welche Partei die eigenen politischen Positionen auch am ehesten im Parlament vertritt, und fördert somit auch die Kongruenz zwischen Bürgerinnen und Bürgern einerseits und Parteien im Europäischen Parlament andererseits.

Die Wahlhilfe schafft mit der Möglichkeit eines europäischen Vergleichs auch ein größeres Bewusstsein für die Transnationalität der europäischen Politik. Sie bietet somit einen Überblick über die unüberschaubare Masse an Parteien im ganzen Europa. Beispielsweise könnte ein europäischer Parteienwettbewerb in Zukunft nicht zwangsläufig über neu zu schaffende grenzübergreifende Parteien verlaufen, sondern über ein grenzübergreifendes Wählen nationaler Parteien anderswo, die besser zu den eigenen Präferenzen passen. Außerdem wird durch die Nutzung dieser Wahlhilfe eine größere öffentliche Aufmerksamkeit für die EU-Wahlen generiert, was die individuelle Wahlbeteiligung in diesem wichtigen demokratischen Prozess fördert. (Sarah Dingler, Fabian Habersack, Reinhard Heinisch, Zoe Lefkofridi, Carsten Wegscheider, 20.5.2019)