Fast länger als seine Wahlkampfreden dauern Jordan Bardellas Selfie-Rituale. Der Europakandidat des rechten Rassemblement National gilt als Mann der Zukunft.

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Endlich einer, der – so hört man tuscheln – die kleinen Leute versteht. Einer wie sie. Etwa hundert Bewohner des Pariser Vororts Bobigny drängen sich an diesem verregneten Tag im kleinen, muffigen Mehrzwecksaal Le Cargo, um Jordan Bardella zu sehen, den Listenführer des Rassemblement National (RN) – wie Marine Le Pens rechtsnationalistischer Front National seit Juni 2018 nun heißt.

Jung, fesch, kurze Haare, blauer Anzug, weißes Hemd: Der Schwiegermuttertraum Bardella ist Le Pens Joker für die EU-Wahl. Er sei ihr Lautsprecher, ihr Schoßhund, lästern die Pariser Medien; doch solche Urteile dringen nicht bis hierher in die verelendete Banlieue, die so weit von Paris entfernt scheint wie der Mond.

Bobigny, das ist die düstere Kehrseite der Lichterstadt – voller Armut und Arbeitslosigkeit, Gewalt und Immigrantenghettos. "Ich kenne das alles, weil ich es selbst erlebt habe", deklamiert der Geografiestudent. "Unsicherheit, Kriminalität, Drogenhandel, das gab es vor meiner Haustür, hier im Département neun drei." Diese Chiffre steht für die Verwaltungszahl 93 des berüchtigten, übel beleumundeten Département Seine-Saint-Denis.

Bardella erzählt, wie er, nur ein paar Kilometer von hier, als Sohn einer italienischen Einwandererfamilie in einer Sozialwohnung aufwuchs. Ohne Vater. Die Mutter hielt sich als Hilfslehrerin über Wasser. Am Tisch habe sie aber strikt nur Französisch gesprochen, damit sich die Kinder assimilierten. "Nur wer Frankreich liebt, ist bereit, sich zu assimilieren", ruft der 23-jährige Listenführer aus, und die Anwesenden schwingen kleine Frankreich-Flaggen. Bardella muss bei seinem Heimspiel gar nicht erst groß erwähnen, dass er schon mit 16 in die Partei eintrat; und dass er Le Pen erstmals mit einer persönlichen Initiative namens "patriotische Banlieue" aufgefallen ist.

"Der große Austausch"

Ausländerfeindliche Tiraden, die sind nicht sein Ding – er ist ja selber ein Immigrantensohn. Die u. a. von dem rechten Schriftsteller Renaud Camus vertretene These vom "großen Austausch" der französischen Urbevölkerung durch die muslimischen Immigranten tut Bardella als eine "Theorie von Intellektuellen" ab – aber nur, um sie sogleich in der Praxis selbst zu bestätigen: "Hier im Département weichen die Bäckereien und Metzgereien mehr und mehr den Halal-Läden; hier tragen schon fünfjährige Mädchen ein Kopftuch!" Die Botschaft ist klar, auch wenn Bardella das Wort "Islam" nicht einmal in den Mund nimmt.

Der neue "Wunderknabe", wie ihn das englischsprachige Portal Politico nennt, braucht nicht lang Überzeugungsarbeit zu leisten: Alle im Saal wählen die "Nationale Sammlung", den Rassemblement. Fast länger als Bardellas Rede dauert dann die obligate Selfie-Runde, bei der sich ganz junge, aber auch etwas ältere Damen neben dem Sonnyboy mit dem gewinnenden Lächeln ablichten lassen. Bardella bleibt locker, spontan, tadellos. Fast etwas zu geschliffen wirkt der RN-Jungmann bereits. Und bereits sehr professionell nimmt er sich Zeit für den ausländischen Journalisten, ohne sich eine Blöße zu geben. Fast wörtlich wiederholt er Le Pens sattsam bekannte Argumente, ohne dies zu verhehlen.

Meinung geändert

Das Ziel des RN bei der Eurowahl? "Wir wollen zusammen mit anderen Souveränisten im Europaparlament die Mehrheit erlangen – oder zumindest eine Sperrminorität", führt er aus, um einzuräumen: In der zentralen Frage der EU-Zugehörigkeit habe seine Partei seit den verlorenen Präsidentschaftswahlen von 2017 die Meinung geändert. "Wir sind pragmatischer geworden; weniger dogmatisch, verlangen weder den EU- noch den Euro-Austritt." Dass es sich um einen Kurswechsel mit weitreichenden Folgen handelt, das versucht Bardella zu kaschieren: "Die 'Nationalen' werden im neuen Europaparlament dank unserer Verbündeten in Italien, Ungarn oder Österreich viel stärker sein. Zusammen werden wir die Rückkehr zum nationalen Vorrang in die Wege leiten."

Le Pens Diskurs gegen die "Masseneinwanderung" hat sich hingegen verschärft – was auch bei Bardella durchdringt: "So wie Marine vorgerechnet hat, erhält ein neu angekommener Immigrant mehr Geld als ein französischer Rentner, der sein Leben lang geschuftet hat", behauptet er. Fact-Checker haben dies bereits widerlegt: Pensionisten erhalten im Schnitt 860 Euro, Flüchtlinge 440 Euro. "Ja, aber dazu kommen auch noch Beherbergung und Arztbehandlung", versucht sich der RN-Listenführer herauszureden. Um dann abzulenken: "Auf jeden Fall sagt Marine: 'Wenn Sie mehr Immigration, mehr Freihandel, weniger Schutz gegen Importe oder weniger Umweltschutz wollen, dann sollten Sie Macron wählen.'"

Druck und Gegendruck

Und selbst ergänzt Bardella das Zitat: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron habe sein Wahlversprechen – die Arbeitslosigkeit und die Immigration zu bekämpfen – nicht eingehalten; er fordere am meisten von jenen, die am wenigsten hätten und die am stärksten unter der Globalisierung und Einwanderung litten.

Auch in Europa sei Frankreich isolierter denn je, behauptet der RN-Mann. "Das muss ein Ende haben." Konkret? "Wenn wir bei den Europawahlen vor Macrons Partei liegen, ist er nicht mehr legitim und müsste eigentlich zurücktreten", meint Bardella. Doch müsste er nicht eher selbst wegen seiner Verwicklung in die RN-Affäre um Scheinjobs im Europarlament den Hut nehmen? "Nichts ist bewiesen", antwortet der RN-Listenchef nur.

Weniger barsch singt Frankreichs großer Chansonnier Charles Aznavour in Sa jeunesse (Seine Jugend), Bardellas Lieblingslied: "Nichts hält den Zwanzigjährigen auf, dessen Zukunft voller Verheißungen ist ..." (Stefan Brändle aus Bobigny, 16.5.2019)