München – Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat Meinungsverschiedenheiten mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eingeräumt, sieht ihr Verhältnis zu ihm aber unbelastet. "Gewiss, wir ringen miteinander. Es gibt Mentalitätsunterschiede zwischen uns sowie Unterschiede im Rollenverständnis", sagte Merkel in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" (Donnerstagsausgabe).
Das sei schon mit früheren Präsidenten so gewesen, so Merkel. Trotzdem stimmten Deutschland und Frankreich "in den großen Linien natürlich" überein und fänden stets Kompromisse.
"So leisten wir viel für Europa, auch heute", sagte die Kanzlerin. Als Beispiel nannte sie "enorme Fortschritte" in der Verteidigungspolitik. "Wir haben beschlossen, zusammen ein Kampfflugzeug und einen Panzer zu entwickeln", sagte Merkel. Es sei "ein großes gegenseitiges Kompliment und ein Zeichen des Vertrauens, wenn man sich in der Verteidigungspolitik stärker aufeinander verlässt".
Meinungsverschiedenheiten zu Brexit
Zwischen Merkel und Macron waren zuletzt Meinungsverschiedenheiten unter anderem über den weiteren Umgang mit dem Brexit, bei Rüstungsexporten und in der Klimapolitik öffentlich geworden. Auf die Frage, ob sich ihr Verhältnis zu Macron in den vergangenen Monaten verschlechtert habe, antwortete Merkel: "Nein. Überhaupt nicht." Es habe allerdings in den Beziehungen "Ungleichzeitigkeiten" gegeben.
"Als er an der Sorbonne sprach, war es kurz nach der Bundestagswahl", sagte Merkel mit Blick auf die große Europarede Macrons an der Pariser Universität Ende September 2017. "Dann kam die ungewöhnlich lange Zeit unserer Regierungsbildung." Merkel wies den Vorwurf zurück, sie setze im Vergleich zu Macron weniger europapolitische Impulse, er gelte als Reformer, sie als Bremserin. "Wir finden immer eine Mitte", sagte die Kanzlerin.
Deutsche "Akzente"
Zudem habe Deutschland "eine ganze Reihe von Initiativen angestoßen", betonte sie. Als Beispiel nannte Merkel das Engagement auf dem Balkan sowie die sogenannten "Compacts with Africa" während der deutschen G-20-Präsidentschaft, um private Investitionen in den afrikanischen Staaten zu fördern. Auch mit der G-20-Agenda zur globalen Gesundheit habe die deutsche Bundesregierung "Akzente gesetzt".
Die Kanzlerin verwies zudem auf Unterschiede in den Ämtern und politischen Kulturen: "Ich bin die Bundeskanzlerin einer Koalitionsregierung und dem Parlament viel stärker verpflichtet als der französische Präsident, der die Nationalversammlung überhaupt nicht betreten darf."
Aber in Kernfragen "sind wir auf einer sehr ähnlichen Wellenlänge". Als Beispiele nannte sie: "Wohin entwickeln sich Europa, die Wirtschaft, welche Verantwortung tragen wir für das Klima und für Afrika." Dies gelte auch in der Frage, "wo wir gegebenenfalls unabhängig von den Vereinigten Staaten agieren müssen, auch wenn ich mir solche Situationen eigentlich nicht wünsche".
Merkel nach Brüssel?
Mit Äußerungen über ihr gestiegenes Verantwortungsgefühl für Europa nährte Merkel im "SZ"-Interview auch Spekulationen über einen Wechsel auf einen wichtigen EU-Posten. Sie kündigte an, sich künftig mit noch größerem Einsatz als bisher für die Zukunft Europas einzusetzen. "Viele machen sich Sorgen um Europa, auch ich. Daraus entsteht bei mir ein noch einmal gesteigertes Gefühl der Verantwortung, mich gemeinsam mit anderen um das Schicksal dieses Europas zu kümmern."
Auf die Frage, ob sie lieber den Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei (EVP), den CSU-Politiker Manfred Weber, als Präsidenten der EU-Kommission sehen würde oder Bundesbankpräsident Jens Weidmann als Präsidenten der Europäischen Zentralbank, sagte Merkel: "Diese Alternative diskutiere ich nicht." Sie setze sich jetzt für Weber als Kommissionspräsidenten ein. "Das schließt nicht aus, dass Deutschland andere herausragende Persönlichkeiten für andere Ämter hat." Auch CDU und CSU gehören zur EVP.
Zugleich machte die Kanzlerin ihre Zweifel am System des Spitzenkandidaten für die Europawahl deutlich. Sie habe schon vor fünf Jahren ihre "Skepsis gegen das Prinzip Spitzenkandidat geäußert", sagte sie. Ihre Unterstützung für Weber als Kommissionspräsident "schließt nicht aus, dass Deutschland andere herausragende Persönlichkeiten für andere Ämter hat".
Die Kanzlerin räumte auch inhaltliche Differenzen mit Weber ein, etwa bei dessen Ablehnung der umstrittenen Ostseepipeline Nord Stream 2. Weber komme hier "aus einer gesamteuropäischen Perspektive zu einer anderen Lösung" als sie. "Meine Perspektive ist eine deutsche und mit Europa kompatible Perspektive." Anders als Weber plädierte Merkel auch nicht für den sofortigen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Zwar machten die jüngsten Ereignisse nach den Kommunalwahlen "eine Mitgliedschaft der Türkei" nicht wahrscheinlicher. Andererseits verwies sie mit Blick auf Syrien und den islamistischen Terror auf "gemeinsame Interessen". (APA, 15.5.2019)