"[…] ein Ausflug auf die bewaldeten Höhen des Kahlenbergs, der ja nun auch nicht der Kahlenberg sein kann, auf den ich nur einen Spaziergänger, aber niemals einen Leser mitnehmen kann, einen Leser könnte ich doch nur mitnehmen auf einen Berg aus Worten, auf Wortwege […]" (Ingeborg Bachmann)

Im Werk Ingeborg Bachmanns erscheint Wien als mythisch aufgeladene und zugleich vertraute Erinnerungslandschaft: Bekannte Ortsnamen leuchten uns entgegen und lassen die Stadt im Text in Erscheinung treten. Dabei ist ihre Wirklichkeit eine andere: Wien ist "auf dem Papier" zu finden und doch "immerzu woanders".

Den konkret beschriebenen Schauplätzen, Detailaufnahmen der Stadt und poetischen Alltagsbeobachtungen werden in der Ausstellung „Wien. Eine Stadt im Spiegel der Literatur“ weit ausholende Utopien zur Seite gestellt. Dystopische Visionen und Entwürfe möglicher Städte, besserer vielleicht, die unerreichbar bleiben oder erst zu bauen wären.

Urbane Utopien

In der Literatur bilden Städte seit langem Kristallisationspunkte utopischer Visionen. Man kann sagen, dass die Utopie und das Bild der Stadt untrennbar verbunden sind. Ihr Name, erdacht vom englischen Politiker und Sozialphilosophen Thomas More in seinem satirischen Werk von 1516 „De optimo rei publicae statu, deque nova insula Utopia“ („Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia“) leitet sich von einem griechischen Sprachspiel her: eu-topos / ou-topos – Mores utopischer Inselstaat ist kein Ort und zugleich ein guter.

Utopien können zeitlich oder räumlich außer Reichweite liegen oder in Bezug auf die an sie geknüpften gesellschaftlichen Bedingungen. Nicht nur weil solche utopischen Visionen unerreichbar bleiben, in fernen Zeiten oder Fantasiereichen angesiedelt sind oder sich als nicht verwirklichbar erweisen, begleiten sie Misstrauen und Kontroversen. Egal, ob es sich um Platons idealen Staat handelt, um Visionen der europäischen Moderne, wie das einflussreiche Konzept kooperativ organisierter Gartenstädte des britischen Urbanisten Ebenezer Howard oder die Theorien des schweizerisch-französischen Architekten und Künstlers Le Corbusier: Sie alle wecken auch Vorstellungen von sterilen Ordnungen, zwanghaftem Perfektionismus und widerspruchsbefreiten Zonen.

Im Buch "Vom Glück in den Städten" bestreitet der ehemalige Architekt, Universalgelehrte und langjährige Bürgermeister von Belgrad, Bogdan Bogdanović, dass die "hellseherische[n] Urbanisten" der späten 1950er-Jahre mit ihrer "futurologische[n] oder besser futurographische[n] Darstellung phantastischer Städte" nennenswertes Neues von ihren Reisen in die Zukunft mitgebracht haben:

Gewöhnlich gingen sie nicht über den Rahmen der Gemeinplätze vieler literarischer Träumereien hinaus, von den außerirdischen Exkursionen Cyrano de Bergeracs oder Jonathan Swifts über Jules Verne bis zu den angestrengten Science Fiction-Exhibitionen moderner Autoren. Solche Texte galten seit jeher als unterhaltsame […] Lektüre. Die urbanistische Phantastik hingegen war mehr als ernst und bis auf seltene Ausnahmen auf tragische Weise humorlos.

Urbano-Poetiken

Bogdanović ging 1993 ins Wiener Exil; sein schriftstellerischer Nachlass befindet sich im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek – über 12.500 Werke sind Teil der Sammlung des Architekturzentrum Wien. Die Wissenschaft von der Stadt verstand er als "Urbano-Poetik" – abgeleitet von einer "Urbanologie", der er sich zugehörig wissen wollte und in Abgrenzung zu einem praktischen "Urbanismus", den er, auf seine Lehrtätigkeit im Jugoslawien der 1960er-Jahre zurückblickend, als "das gemeinsame Hobby von Technokraten, Politikern und Ideologen" ansah.

Wenn es um die Auslotung unbekannter (urbaner) Räume geht, erinnern Bogdanovićs Stadterkundungen – die, so fand er, nur zu Fuß funktionieren würden – in manchem an jene der Situationisten und ihrer Vorgänger. Die 1953 von Ivan Chtcheglov, einem Mitglied dieser künstlerisch-politischen Vereinigung, veröffentlichte "Formel für einen neuen Urbanismus" inspirierte zahlreiche ihrer Aktivitäten und Theorien. Insbesondere die "Psychogeografie", deren Ziel es war, die Wirkung städtischer Räume auf ihre Bewohner zu untersuchen und die den Geografien einer Stadt eingeschriebenen Qualitäten und Handlungsmöglichkeiten mithilfe verschiedener Techniken, etwa des ziellosen Umherschweifens über mitunter längere Zeiträume, zu beeinflussen. Ihr Utopismus wollte die Revolution im Hier und Jetzt, in Städten, die existierten. Eine in der Ausstellung präsentierte Skizze Bogdanovićs lässt die Stadt als "psychisches Feld" erscheinen, in das sich unsere tagtäglichen Bewegungen und Wege einschreiben lassen. Die Stadt ist hier zugleich "Abdruck" (oder Spur) unserer Persönlichkeit und "bildet sich in uns ab".

Bogdan Bogdanovic: "GRAD", ohne Datum. Typoskript mit Filzstiftzeichnung.
Foto: Österreichische Nationalbibliothek

Gartenstadt

Als "konkrete Utopie" kann die Hommage "WIG 74" Friedrich Heers gelten. "Eine Million Quadratmeter Gartenparadies im sonnigen Süden Wiens" werden in dem Gedicht aus dem Nachlass des Historikers, Kulturphilosophen und Schriftstellers besungen. Heer, dessen umfangreiches Werk auch von der lebenslangen Auseinandersetzung mit seiner Geburtsstadt Wien zeugt, schrieb es anlässlich der zweiten "Wiener Internationalen Gartenschau", die im Jahr 1974 auf dem Gelände des heutigen Kurparks Oberlaa im Süden Wiens stattfand. Dreißig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges scheint "Gärten der Nationen" zu errichten möglich, wenigstens auf dem Gelände der WIG, fand sich ein "Utopischer Garten" doch bereits im Anforderungsprofil der Ausschreibung zu dieser Schau. "Gärten sind ja immer auch dies: Utopie / Verheissung eines Glücks, das noch nicht da ist", heißt es bei Heer. Seiner Vision Wiens als "Schwesterstadt aller Städte" wohnt ein antizipatorisches Moment inne, zeigt sie doch an, was es zu verwirklichen gilt: "es liegt nur an uns, dies an uns zu bestellen".

Wien-Aktuell: Wandzeitung zur WIG 74. Brunnthaler/Riedler, Druck- und Verlagsanstalt Vorwärts AG.
Foto: Österreichische Nationalbibliothek

Seestadt

Möglichkeitsräume offenbaren sich uns auch in der literarisch-künstlerischen Annäherung an die Seestadt Aspern zur Zeit ihrer Planung: Das Buch "aspern. Reise in eine mögliche Stadt" von Thomas Ballhausen, Andrea Grill und Hanno Millesi führt in die nähere Gegenwart Wiens. Dorthin, wo sich ab 1912 der Vorgänger des heutigen Flughafens Wien-Schwechat befand und seit 2009 eines der größten Stadtentwicklungsgebiete Europas im Entstehen begriffen ist. Es erkundet in Texten und Bildern Gebiete, die mittlerweile tatsächlich Form angenommen haben und ist zugleich eine Suche nach universalen Möglichkeiten städtischen Lebens.

Hanno Millesi: "Yesterday’s People", 2015. Collage.
Foto: Hanno Millesi

Die Ausstellung „Wien. Eine Stadt im Spiegel der Literatur“ ist noch bis 16. Februar 2020 im Literaturmuseum zu sehen. Begleitend zur Schau erschien ein gleichnamiger Katalog, herausgegeben von Bernhard Fetz, Katharina Manojlovic und Kerstin Putz. (Katharina Manojlovic, 27.5.2019)

Katharina Manojlovic ist Mitarbeiterin des Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek und Mitkuratorin der aktuellen Sonderausstellung „Wien. Eine Stadt im Spiegel der Literatur.“

Literaturhinweise

  • Bachmann, Ingeborg: „Todesarten“. Typoskript aus dem Nachlass, o.D. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.
  • Bachmann, Ingeborg (1993): Der Fall Franza. In: dies.: Werke, Bd. 3: Malina und unvollendete Romane. Hg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster. München: Piper.
  • Ballhausen, Thomas / Andrea Grill / Hanno Millesi (2013): aspern. Reise in eine mögliche Stadt. Wien: Falter Verlag.
  • Bogdanović, Bogdan (LIT 393): „GRAD“, Typoskript und Zeichnung, A4, o. D. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.
  • Bogdanović, Bogdan (2009): Vom Glück in den Städten. Wien: Paul Zsolnay Verlag.
  • Heer, Friedrich (ÖLA 188): „WIG 74“, Typoskript [1974]. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.
  • Pinder, David (2005): Visions of the City. Utopianism, Power and Politics in Twentieth-Century Urbanism. Edinburgh: Edinburgh University Press. 

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