Ingrid Levavasseur: Die größten Probleme für AlleinerzieherInnen-Familien? "Ach, wo soll ich anfangen?"

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Ingrid Levavasseur und Maria Stern (Liste Jetzt) bei der Diskussion "Alleinerzieherinnen vernetzen Europa" am Mittwoch in Wien.

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Europaweit haben AlleinerzieherInnen-Familien mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, sind sich Stern und Levavasseur einig.

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Ingrid Levavasseur war Mitinitiatorin der Gelbwesten und wurde zum Gesicht der französischen Protestbewegung. Ihr Engagement und ihre Ankündigung, bei der Europawahl kandidieren zu wollen, lösten auch massive Angriffe auf ihre Person aus. Levavasseur, die hauptberuflich als Feuerwehrfrau arbeitet, zog sich daraufhin von den Gelbwesten und von ihrer Kandidatur zurück. Inzwischen engagiert sie sich auch für die Rechte von Alleinerziehenden. Maria Stern, Parteivorsitzende der Liste Jetzt, hat die prominente Aktivistin eingeladen, um bei der Veranstaltung "Alleinerzieherinnen vernetzen Europa" am Mittwoch über die europaweiten Probleme von Alleinerzieherfamilien zu diskutieren. Mehr als 90 Prozent der Alleinerziehenden sind Frauen, und 44 Prozent der Alleinerziehenden sind armutsgefährdet.

STANDARD: Sie haben die Gelbwesten-Bewegung für ihre machoiden und rechten Tendenzen kritisiert. Wäre es nicht gerade deswegen wichtig, dass frauenpolitische Themen in solchen Bewegungen gestärkt werden und feministische Frauen präsent sind? Wie könnte das gehen?

Levavasseur: Feministische Frauen waren sehr viele bei den Gelbwesten, auch sehr viele Alleinerziehende, die nicht immer bleiben konnten, weil sie arbeiten und sich um die Kinder kümmern mussten. Ich habe die Bewegung Éclosion Démocratique (Demokratisches Erwachen) gegründet mit Werten wie: Politik für alle, Solidarität für alle, Zukunft für alle und Feminismus für alle – mit dem Ziel, Frauen ebenso wie Männern ihren Platz in der Gesellschaft zu geben.

STANDARD: Sie gründeten auch die Plattform Racines Positives (Positive Wurzeln) für Alleinerzieherfamilien. Welche Probleme dieser Familien müssten am dringlichsten in Angriff genommen werden?

Levavasseur: Die Plattform hat zum Ziel, ein Netzwerk für AlleinerzieherInnen-Familien zu schaffen. Der Verein ist ein Instrument zum Kampf gegen Diskriminierung der AlleinerzieherInnen-Familien, dies geschieht sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Gesellschaft. Einer alleinerziehenden Frau wird in Frankreich oft nachgesagt, "Die hat nicht nachgedacht, die hat's gewollt ..." Einem alleinerziehenden Vater eigentlich ebenso oder "Der arme Kerl ..." Ich fordere unter anderem eine Verlängerung und Erhöhung der Unterstützung für Kleinkinder vom derzeitigen Limit sechs Jahre auf zehn Jahre, ein erweitertes Anrecht auf Pflegetage für Kinder und die Bildung einer zentralen Stelle, die einspringt, wenn die Essenszuschüsse, die Teil der Alimente sind, nicht gezahlt werden.

STANDARD: Frau Stern, Sie sind gerade dabei, eine europaweite Initiative für Alleinerziehende zu gründen. Warum brauchen wir das?

Stern: Ich setzte mich mit der historischen Situation von Alleinerzieherinnen auseinander und recherchierte internationale Vergleiche. Es wurde sofort klar, dass die Diskriminierung dieser Familienform, die es immer gab, kein österreichisches Phänomen ist. Die europäische Initiative ist wichtig, um allen Alleinerzieherinnen klarzumachen, dass sie nicht aus eigenem Verschulden in eine Notsituation gekommen, sondern mit gewachsener struktureller Gewalt konfrontiert sind. Darüber hinaus können wir voneinander lernen und einander stärken. Eine Holländerin sprach bei der Kontaktaufnahme sofort von einer Großdemo in Brüssel. Gefällt mir.

STANDARD: Inwiefern bringt die Erfahrung der Alleinerzieherin aus zum Beispiel Irland etwas für österreichische Alleinerziehende?

Stern: Deutsche Alleinerzieherinnen müssen sich mit dem Ehegattensplitting herumschlagen, Österreicherinnen mit dem Unterhaltsherabsetzungsantrag. In Gesprächen wird klar, wie absurd die nationalen Dreistigkeiten sind. Das Wissen darum stärkt den widerständigen Geist.

STANDARD: Frau Levavasseur, Ihnen ging es immer auch um die Probleme der Landbevölkerung. Wie unterscheiden sich konkret in Frankreich die Probleme von Müttern auf dem Land von jenen in einer Stadt?

Levavasseur: Ich stamme aus einer ländlichen Gegend. Durch die verstärkte Landflucht wurden auch Kindereinrichtungen eingespart und die noch vorhandenen "zentralisiert" und vom Wohnort noch weiter entfernt. Auf dem Land braucht man ein Auto, um die Distanzen bewältigen zu können, und hier sind die Kosten – Benzin, Erhalt, Versicherung – enorm. In der Stadt sind diese Wege näher und mit U-Bahn, Bus oder Fahrrad bewältigbar, dadurch fallen auch erheblich weniger Kosten an als auf dem Land. Man sollte endlich etwas gegen die Landflucht unternehmen und auch mit Zusammenlegungen im Sinne von "Optimierung" und Zentralisierung aufhören.

STANDARD: Wo liegen für Sie persönlich die größten Schwierigkeiten: Alleinerziehend mit zwei Kindern und einem niedrigen Einkommen?

Levavasseur: Die größten Probleme? Ach, wo soll ich anfangen? Die Prekarität, die Unsicherheit und Geldnot; am 15. des Monats ist das Konto bereits überzogen; nicht wissen, wie und womit Frau den Kühlschrank für die Kinder befüllt; keine Möglichkeit zur beruflichen Weiterbildung, weil Geld und Zeit fehlen; kaum Möglichkeiten auf Freizeit; eingeschränktes bis kaum vorhandenes Sozialleben und Teilhabe an der Gesellschaft.

STANDARD: Politische Arbeit für und vor allem mit Alleinerziehenden ist sehr schwer, sie haben oft schlichtweg keine Zeit, sich zu engagieren, oder?

Stern: Ja, definitiv. Es gelingt durch Selbstausbeutung. Dass weder Zeit, Energie noch Geld vorhanden ist, ist aber auch der Grund, warum es keine politischen Durchbrüche gibt. Ich habe mir damals in meiner persönlichen Notlage geschworen, die Sicherung des Unterhaltes zu erstreiten. Dieser feste Entschluss half bei Durststrecken. Die Zusammenarbeit mit Frauen, denen es auch so ging, war wichtig. Wir müssen die Sparflammen unserer Energien bündeln. Das ist unsere einzige Chance. Und zugleich die Überwindung neoliberaler Vereinsamung.

STANDARD: Frankreich ist in Österreich dafür bekannt, dass es dort zumindest gesellschaftlich weniger Abwertung als in Österreich gibt, wenn man sehr kleine Kinder in Betreuungseinrichtungen gibt.

Stern: Ich sprach vor Jahren bei einer Tagung in Brüssel mit einer französischen Mutter, die Stress damit hatte, dass ihr Kind schon ein halbes Jahr alt ist und sie noch immer keinen guten Betreuungsplatz gefunden hat. Das ist in Österreich eher undenkbar, da Begriffe wie Rabenmutter oder das eigene schlechte Gewissen schnell zur Stelle sind. Kein Wunder, dass Frankreich eine höhere Geburtenrate hat. Wir brauchen ausreichende Kinderbetreuung und aktive Väter, falls man sich dazu entscheidet, das Kind länger zu Hause zu lassen, was legitim ist. Wenn das alles den Müttern überlassen bleibt, wird das nix. Ich kenne keine Frau, die damit einverstanden ist, in der Altersarmut zu landen, nur weil die österreichische Politik noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen ist. Gerade die junge Generation ist da schon viel weiter, und das ist gut so.

STANDARD: Was könnte man auf europapolitischer Ebene tun?

Levavasseur: Europaweit haben AlleinerzieherInnen-Familien mit Isolation und Diskriminierung zu kämpfen. Wenn ich an die heutige Konferenz denke, die Fragen und Beiträge aus dem Publikum Revue passieren lasse, sind die zu lösenden Probleme eigentlich gleich gelagert: Das ausreichende Vorhandensein und der Zugang zu adäquaten Kinderbetreuungseinrichtungen, alternierende Kinderbetreuung, Zugang zur Fortbildung und Wiedereinstieg, Zugang zu Bildung bei jungen AlleinerzieherInnen-Familien – und die Kinderbeihilfe muss entsprechend adaptieren werden. AlleinerzieherInnen-Familien sind keine AlmosenempfängerInnen, sondern integraler Bestandteil unserer Gesellschaft.

Stern: Ich bin gerade dabei, das herauszufinden, und befürchte, dass Armut das ganz große Thema sein wird. Was man auf europäischer Ebene tun kann, werden wir gemeinsam diskutieren und umsetzen. Der Europäische Tag der AlleinerzieherInnen – European Single Parents Day – kann Anlass sein, diesbezügliche Konferenzen einzuberufen beziehungsweise für gemeinsame Forderungen auf den Tisch zu hauen. Und zwar kräftig. (Beate Hausbichler, 16.5.2019)