Sie kann immer noch für Überraschungen sorgen. Wochenlang hatte sich die deutsche Kanzlerin Angela Merkel eher rar gemacht, im EU-Wahlkampf tritt sie kaum in Erscheinung. Viele deuteten das bereits als den Anfang vom Abschied aus dem Berliner Kanzleramt.

Doch nun hat Merkel in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" erklärt, dass sie sich künftig mit noch mehr Engagement für Europa einsetzen wolle. "Viele machen sich Sorgen um Europa, auch ich. Daraus entsteht bei mir ein noch einmal gesteigertes Gefühl der Verantwortung, mich gemeinsam mit anderen um das Schicksal dieses Europas zu kümmern", sagt sie.

Will sie also nach der EU-Wahl doch nach Brüssel wechseln? Diese Spekulationen gab es seit Längerem. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hat vor Kurzem gemeint: "Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass Angela Merkel in der Versenkung verschwindet. Sie ist nicht nur eine Respektsperson, sondern ein liebenswertes Gesamtkunstwerk." Und mit Blick auf ein mögliches EU-Amt hatte er hinzugefügt: "Hochqualifiziert wäre sie."

Spekuliert wurde und wird, dass Merkel die Nachfolge von Donald Tusk antreten und Ratspräsidentin werden könnte. Zwar hat sie bei ihrem Rückzug als CDU-Chefin klargestellt, dass sie kein Amt in Europa anstrebt, und am Donnerstagnachmittag erklärte sie erneut, "dass ich für kein weiteres politisches Amt, egal wo es ist, auch nicht in Europa, zur Verfügung stehe".

Differenzen mit Weber

Aber wenn sie sehr gebeten wird, dann kann die Politikerin mit der meisten Erfahrung in der EU vielleicht nicht nein sagen. Eine Ratspräsidentin Merkel würde allerdings die Chancen von EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber (CSU) schmälern: Der macht sich Hoffnung auf den Job des Kommissionspräsidenten. Im Interview hat Merkel übrigens Differenzen mit ihm eingeräumt. Anders als die Kanzlerin ist Weber kein Freund der Pipeline Nord Stream 2, die Gas von Russland in die EU transportieren soll.

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So harmonisch, wie Macron und Merkel sonst immer zu sehen waren, scheinen sie derzeit nicht zu sein.
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Jedenfalls bräuchte Merkel in Europa die Unterstützung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron – doch derzeit stottert der deutsch-französische Motor wieder einmal. "Gewiss, wir ringen miteinander", räumte Merkel im "SZ"-Interview ein.

In Paris wächst die Frustration über die deutsche Kanzlerin seit Längerem. Macrons Europaministerin Amélie de Montchalin räumte unlängst ein, dass es mit ihr einen "ungewöhnlichen Dissens" gebe. Sie meinte damit die unterschiedlichen Haltungen zum Brexit: Merkel will den Briten bedeutend mehr Zeit einräumen als Macron.

Die Streitthemen über den Rhein hinweg haben sich gehäuft. Macron ist gegen die von Berlin forcierte Pipeline Nord Stream 2. Im Februar war er der Münchner Sicherheitskonferenz ferngeblieben und hatte der deutschen Idee, dass Frankreich seine nukleare Abschreckung auf ganz Europa ausdehnen könnte, eine schroffe Abfuhr erteilt. Die Vorstellung der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, dass Frankreich seinen ständigen Sitz im Uno-Sicherheitsrat mit Deutschland oder der EU teilen könnte, bezeichnete Außenminister Jean-Yves Le Drian als "dumm".

Disput um Straßburg

Im Chor mit Weber und Kanzler Sebastian Kurz verlangt Kramp-Karrenbauer nun eine Abstimmung über den Bestand der zweiten EU-Hauptstadt Straßburg. Das wird in Paris schlicht als Verrat an der deutsch-französischen Freundschaft empfunden.

Macron ist ohnehin erbittert über Merkels klare Ablehnung französischer Ideen für ein Eurozonen-Budget. Er fühlt sich deshalb nicht länger an eine bilaterale Solidarität gebunden und stellt sich offen gegen Webers Kandidatur für den Kommissionsvorsitz.

Die Streitthemen wurden mehr.
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In Paris legen ihm viele Stimmen von links bis rechts nahe, Frankreich solle auf Distanz zu den deutschen Positionen gehen und stattdessen andere EU-Verbündete suchen. Das tut Macron bereits mit seinem Versuch, Niederländer und Skandinavier für eine zentrumsliberale Fraktion zwischen den konservativen und sozialdemokratischen Blöcken zu gewinnen.

Doch auch wenn die Spannungen zwischen Paris und Berlin nun wahlkampfbedingt steigen, hat letztlich keine Seite Interesse an einer Eskalation. Macron kann und will sich nicht auch noch mit den Deutschen überwerfen, nachdem er sich schon in Italien und Osteuropa unbeliebt gemacht hat. Und beide wissen, dass sie mit einem offenen Disput die EU bloß vollends in die Krise stürzen würden. (Birgit Baumann aus Berlin, Stefan Brändle aus Paris, 16.5.2019)