Spezialisierung entscheidet über die Wettbewerbsfähigkeit – auch den Handel mit China betreffend.

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Ob China die USA beim BIP einmal überholen wird, das ist für die Wirtschaftsbeziehungen Europas zweitrangig, weiß der Volkswirtschafter Gunther Tichy. Im Gastkommentar erläutert er, warum es etwa ohne den massiven Ausbau der technologieorientierten Grundlagenforschung keine Wettbewerbsfähigkeit geben wird.

China werde die USA demnächst an Wirtschaftsstärke überholen, China werde zum Marktführer in digitaler Technologie, China erobere unsere Märkte; was werden wir in Zukunft überhaupt noch produzieren können? Diese Ängste, die Politik und Medien beunruhigen, erscheinen zumindest voreilig: Derzeit ist das chinesische Bruttosozialprodukt absolut um gut ein Drittel (pro Kopf sogar um 85 Prozent) kleiner als jenes der USA, trotz einer viereinviertel Mal so großen Bevölkerung.

Gefährliche Extrapolation

Um ihre Ängste zu rechtfertigen, müssen die Defätisten daher die bisherige Entwicklung extrapolieren. Die Vergangenheit zeigt jedoch, dass Extrapolationen gefährlich sind: Ende der Siebzigerjahre sah man Japan als Nummer eins und versuchte dessen Erfolg nachzuahmen – tatsächlich ist das Pro-Kopf-Einkommen Japans inzwischen von 77 Prozent des amerikanischen Werts auf 66 Prozent zurückgefallen. Der Club of Rome prognostizierte 1972, dass die weltweiten Erdölreserven bloß noch bis 2003 reichen – heute erwartet man das für 2080. Im Schock der Ölkrise rechnete man 1973 mit riesigen Leistungsbilanzdefiziten, die Devisenreserven würden bloß zweieinhalb Jahre, bei Aufwertung der Goldreserven bestenfalls vier Jahre reichen – trotz weiterer Ölverteuerung haben derzeit eher die Ölförderländer Probleme.

Es zeigt sich, dass naive Extrapolationen gefährlich sind. Wie sind die üblichen Extrapolationen der bisherigen Erfolge Chinas in diesem Licht zu sehen? Vorsicht erscheint angebracht. Der Erfolg der letzen Jahrzehnte beruhte auf den Reformen von Deng Xiaoping (1978), der die Autarkiepolitik von Mao Zedong durch das südostasiatische Erfolgsmodell exportgetriebener Entwicklung ersetzte. Ihr Erfolg hat diese Strategie jedoch an Grenzen geführt: Der Widerstand der übrigen Welt wächst, Probleme bei Handel wie Direktinvestitionen häufen sich. Nicht geringer sind die internen Probleme Chinas: Ein-Kind-Politik und Alterung lassen die Zahl der Erwerbstätigem schrumpfen, die Spannungen zwischen der neuen urbanen Mittelklasse und der Diktatur des Parteimonopols nehmen ebenso zu wie diejenigen hinsichtlich der Minderheiten. Die Umweltprobleme reichen von Wasserknappheit, schlechter Wasser- und Luftqualität bis zu Erosion und Versteppung.

Spezialisierung entscheidet

Ob diese Probleme die Dynamik bremsen werden, muss offenbleiben; bisher war China bei der Überwindung seiner Probleme recht erfolgreich. Ob sein BIP früher oder später größer sein wird als jenes der USA, mag den Stolz der Amerikaner treffen – für unsere Wirtschaftsbeziehungen ist es zweitrangig. Die Erfahrung zeigt unmissverständlich, dass der überwiegende Teil des Handels zwischen Industriestaaten mit Industrieprodukten stattfindet.

Spezialisierung entscheidet über die Wettbewerbsfähigkeit: Österreich erzeugt Motoren für BMW und Opel, nicht weil das die Deutschen nicht können, sondern weil wir uns darauf spezialisiert haben. Ein erfolgreiches China wird uns Spezialitäten abkaufen, und wir werden seine Spezialitäten importieren. Wir müssen bloß entsprechende Spezialitäten entwickeln und weiterentwickeln.

Bemühen um Zukunftsmärkte

Die Gefahren liegen weder bei Größe noch Dynamik der chinesischen Wirtschaft; sie resultieren aus dem Bemühen Chinas, bei Zukunftstechnologien Weltmonopole aufzubauen. Bei Solarpaneelen ist das schon weitgehend gelungen, bei Batterien, Netzwerktechnik und bestimmten Bereichen der künstlichen Intelligenz ist China gut unterwegs.

Die Strategie beruht nicht bloß auf erheblichem Forschungs- und Subventionsaufwand des Staates, sondern – mehr noch – auf staatlicher Beschaffungspolitik: für Überwachungsnetze, im Bereich der E-Mobilität et cetera. Ausländische Firmen sind dabei ausgeschlossen. China kopiert die amerikanische Rüstungspolitik, die die IT-Industrie via Staatsaufträge entwickelt hat; Internet und soziale Medien entstanden nicht, wie das Marketing kolportiert, in Garagen, sondern sind Abfallprodukte der Rüstungsforschung.

Zölle und Einschränkungen

Weltmonopole eines Staates, der offensichtlich auch politische Dominanz anstrebt, sind gefährlich. Das Modell des effizienz- und wohlstandssteigernden Handels von Spezialitäten zwischen Industriestaaten setzt Wettbewerb voraus. Der kann nicht funktionieren, wenn China danach strebt, unsere Elektromobilität von der Lieferung seiner Batterien abhängig zu machen und unsere Kommunikation über chinesische Netze laufen zu lassen. Über Nacht könnten wir dann vom Bezug ausgeschlossen werden; die jüngsten Entwicklungen der US-Außenpolitik sollten eine Warnung sein. Die Verhandlungen in Brüssel zeigen, dass China seinen Markt nicht öffnen und die Diskriminierung ausländischer Unternehmen nicht aufgeben, selbst jedoch weiterhin in ausländische Märkte eindringen will.

Europa muss daher dringend defensive und offensive Gegenstrategien entwickeln. Defensive, indem für subventionierte chinesische Produkte Retorsionszölle eingehoben werden und chinesischen Firmen in der EU dieselben Beschränkungen auferlegt werden wie europäischen in China. Es geht nicht an, dass chinesische Firmen unsere Kommunikationsnetze aufbauen, wogegen europäische Firmen in China bloß zugelassen werden, wenn sie ihre Technologien offenlegen und damit angesichts des löchrigen Urheberschutzes zum Kopieren freigeben. Erste Ansätze einer solchen defensiven Politik sind im Entstehen.

Europäisches Industriekonzept

Viel wichtiger aber wären offensive Strategien. Europa muss Spezialitäten entwickeln und vor Transfers schützen, die für China wichtig, wenn nicht unverzichtbar sind beziehungsweise sein werden. Zwangsläufig kann das nicht in Bereichen sein, in denen China bereits jetzt einen Vorsprung hat. Dazu bedarf es eines europäischen Industriekonzepts, das nicht wie bisher auf die Steigerung des Industrieanteils starrt, sondern auf die Entwicklung europaspezifischer Spezialitäten. Voraussetzung dafür ist der massive Ausbau der technologieorientierten Grundlagenforschung auf ausgewählten Gebieten wie die Förderung der Umsetzung. Ein wesentliches Element davon ist die Gründungsfinanzierung, doch ist darauf zu achten, dass die Spezialitätenfirmen nicht von asiatischen oder amerikanischen Konzernen aufgekauft werden.

All das mag nach Nationalismus klingen, ist es aber nicht. Einerseits geht es nicht um nationalstaatliche, sondern um europäische Politik, und andererseits sind auch die offensiven Maßnahmen insofern defensiv, als sie nationalen Offensiven Chinas und zuletzt auch der USA entgegenwirken müssen. Sie wären nicht erforderlich, gelänge es, zu fairen Spielregeln zurückzukehren. (Gunther Tichy, 16.5.2019)