Das geplante "Bundesgesetz über Sorgfalt und Verantwortung im Netz" werde zu einer Selbstzensur in Onlineforen führen, so der Rechtsanwalt und Politiker Alfred J. Noll. Im Gastkommentar stellt er Überlegungen zu einer Selbstregulierung abseits staatlicher Regelungen an.

Die geplante digitale Ausweispflicht in Onlineforen wird zu einer Selbstzensur der Nutzerinnen und Nutzer führen.
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Ja, die Alten wussten es noch: In der Politik des Aristoteles lesen wir: "Überhaupt soll der Gesetzgeber vor allem andern das gemeine Reden aus dem Staate verbannen; denn wenn man leicht über Gemeines reden kann, so wird man auch bald zu entsprechenden Taten kommen." Und Thomas Hobbes hat im Leviathan ähnlich rigoros postuliert: "Es kommt dem Inhaber der souveränen Macht zu, über Meinungen und Lehren Richter zu sein oder alle Richter darüber einzusetzen, da es notwendig für den Frieden ist, hierdurch Zwietracht und Bürgerkrieg zu verhüten." – Sind wir jetzt so weit, dass der Gesetzgeber des Jahres 2019 erfüllen kann, was vor Jahrhunderten und Jahrtausenden gefordert wurde?

Wahrheit und Lüge

Im Fleisch der von uns allen heute hochgelobten Kommunikationsfreiheit steckt freilich ein schmerzender Stachel, den man kaum plastischer beschreiben könnte als mit dem englischen Sprichwort: "A lie can run around the world before the truth has got its boots on."

Wir wissen darum, dass etwa Facebook für Desinformationskampagnen im US-Präsidentschaftswahlkampf 2015/16 oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahl in Frankreich 2017 benutzt wurde. Fake-News-Kampagnen können im Darknet um 400.000 US-Dollar bestellt werden, die Provokation von Protesten um 200.000 US-Dollar, die Diskreditierung eines Journalisten oder eines Politikers ist um 50.000 US-Dollar zu haben. Was wir im "Social Web" erleben, kann immer das "Arbeitsergebnis" eines erfolgreichen Diensteanbieters sein. Alle Versuche, den Wahrheitsgehalt von Nachrichten zu überprüfen, sind bisher gescheitert.

Konflikte aufarbeiten

Wer die Registrierungspflicht für "gewöhnliche User" vorschreibt, der nimmt also zunächst einmal eine allgemeine Wertung vor: Das Große und Ganze ist ihm einerlei, er will sich auf die Kleinen stürzen. Was hier in Gang kommt, ist ein legistischer Placeboauftritt, der sich um die wahren Probleme nicht kümmert.

Etwas anderes aber ist wichtiger: Wir finden im Entwurf eines "Bundesgesetzes über Sorgfalt und Verantwortung im Netz" keine Antwort auf das zentrale Problem, ob nämlich die durch die neuen Medien ermöglichten kommunikativen Akte samt und sonders immer nur und ausschließlich am Maßstab des Straf- und Medienrechts gemessen werden sollen und ob die staatliche Justizgewähr die einzige Form der Konfliktbearbeitung im Netz sein soll. Fragen der medialen Selbstregulierung (Stichwort: Faktenchecker mit anschließender Markierung von "Fake-News") kommen dem Entwurf ebenso wenig in den Sinn wie staatsferne Institutionen mit aufsichtsrechtlicher Funktion (Stichwort: regulierte Selbstregulierung). Der ganze Entwurf schwindelt sich um das eigentliche Problem herum.

Pure Ideologie

Führt man sich die in Onlineforen zugänglich gemachten Hervorbringungen zu Gemüte, dann sieht man sich einem beinahe unglaublichen Berg von Verbalschrott, Blödsinn, Beleidigungen, Herabwürdigungen und auch verstockt-beharrlicher Uninformiertheit gegenüber. Einerlei welche Maßstäbe wir anwenden, es ist schwer zu glauben, dass dies das gewollte Ergebnis der Forderung nach und des Kampfes um die Pressefreiheit gewesen sein soll. Die hier oftmals zur Schau gestellte Mischung aus Triebabfuhr und Bösartigkeit ist erschreckend, und sie versaut den öffentlichen Kommunikationsraum auf eine Weise, die einen schier ratlos werden lässt.

Aber die Lösung wird nicht darin bestehen, dass wir mit dem Schwert des Strafrechts ins Dickicht des Netzes einhauen. Die Registrierungspflicht stellt in Aussicht, dass der Staat sein Justizsystem dafür zur Verfügung stellen wird, dass sich in Hundertausenden von Fällen die von Postings Betroffenen nunmehr am Maßstab des Medienrechts vor unseren Gerichten balgen. Das ist pure Ideologie. Tatsächlich setzt der Entwurf darauf, dass es zu einer Art "natürlichen Selbstbeschränkung" kommen wird. Das aber ist nichts anderes als eine staatlich erzwungene Selbstzensur und gleichzeitig eine Gefährdung der wirtschaftlichen Existenzbedingungen von Plattformen.

Prozess der Selbstregulierung

Was heute für das Medienrecht eine formidable Blamage ist, das muss freilich für das öffentliche Wohl noch lange keine Katastrophe sein. Vorstellbar immerhin wäre ja, dass sich die durchs Mediengesetz amtlich zum Ausdruck gebrachten und mit Zwangsgewalt versehenen Werte in einem Prozess kommunikativer Selbstregulierung ebenso gut oder vielleicht sogar besser realisieren könnten. Vielleicht gilt sogar, dass sich diese Werte mit Aussicht auf Erfolg überhaupt nur noch realisieren lassen, wenn man das Mediengesetz auf derartige Kommunikationsvorgänge gerade nicht anwendet.

Die Forderung, die gesamte im Netz geführte Kommunikation aus dem Anwendungsbereich des Mediengesetzes oder gar aus jeglicher rechtlichen Normierung auszunehmen, scheint auf den ersten Blick untragbar zu sein. Es würde unter den gegebenen technischen Kommunikationsmöglichkeiten den durchs Mediengesetz angezielten Persönlichkeitsschutz gänzlich leer laufen lassen. Das wird beim moralisch leicht erregbaren Kleinbürgertum mit Bildungshintergrund ebenso auf Widerstand stoßen wie bei den resoluten Verfechtern unumschränkter Staatsmacht. Gleichzeitig wird man hier differenzieren müssen zwischen den völlig öffentlichen und deshalb stets für ein unbegrenzbares Publikum zugänglichen Postings bei Onlinemedien und den verschiedenen Foren des in ihrer Zugänglichkeit meist eingeschränkten "Social Web". Diese Differenzierung könnte ansetzen bei der Beobachtung, dass zwar die "persönliche Ehre" durchaus eine Schranke der Meinungsfreiheit bildet, dass man auf diesem Gebiet aber weiter zu fragen hätte, ob nicht die Kollision zwischen "geistigen Gütern" selbst, dem Recht auf Meinungsäußerung und dem Recht auf persönliche Ehre, ihren "Ausgleich" durch einen Effekt der Selbstorganisation innerhalb der (spezifischen) Öffentlichkeit finden kann oder ob die Kollision wieder an den Staat (also das Gericht) zur Entscheidung zurückgegeben werden muss.

Ein Paradigmenwechsel

Mir scheint es die Realität der digitalen Kommunikation nahezulegen, die Diskussion über den Anwendungsbereich des Mediengesetzes ernsthaft zu beginnen. Wir sollten uns Gedanken darüber machen, auf welchen Feldern der privaten und halböffentlichen digitalen Kommunikation auf die Selbstorganisation und der daraus erwachsenden Selbstregulierung abseits staatlicher Regelungen gesetzt werden kann.

Allerdings muss hier mit aller Deutlichkeit darauf hingewiesen werden, dass es dabei um einen Paradigmenwechsel ginge: Sobald man diese Frage nämlich stellt, muss man bereit sein, für bestimmte Teilbereiche der öffentlichen Kommunikation darauf zu verzichten, gesetzliche Inhaltsschranken vorzugeben, vielmehr hätte man sich dahin zu orientieren, den Schutz der Selbstdefinition eines Prozesses der Meinungsbildung zu gewährleisten. Eine durchaus konkretisierungsbedürftige Angelegenheit, die etwa bei der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Typen von Publikationen ansetzen könnte – und damit dann auch Ernst machen könnte mit der Einsicht in das Erfordernis dezentraler Kollisionsbewältigung statt voller hierarchischer Einheit des Rechts. (Alfred J. Noll, 17.5.2019)