"Nun wollen wir uns zu dem politischen Schauspiel unsrer Zeit wenden. Alte und neue Welt sind in Kampf begriffen, die Mangelhaftigkeit und Bedürftigkeit der bisherigen Staatseinrichtungen sind in furchtbaren Phänomenen offenbar geworden. Wie wenn auch hier wie in den Wissenschaften eine nähere und mannigfaltigere Connexion und Berührung der europäischen Staaten zunächst der historische Zweck des Krieges wäre, wenn eine neue Regung des bisher schlummernden Europa ins Spiel käme, wenn Europa wieder erwachen wollte, wenn ein Staat der Staaten uns bevorstände!"

Novalis, Die Christenheit oder Europa, Fragment von 1799

Es gibt ein Genre in Europa, das jeweils vor Wahlen zum Europäischen Parlament seine Hochkonjunktur erlebt: das politische Lamento. Allerlei Funktionäre, Professoren und nicht zuletzt Journalisten veröffentlichen dann anlassbezogene Seufzerstücke ("Ach, Europa!").

Und diese triefen dermaßen vor Trübsal, Niedergeschlagenheit und Untergangslust, dass sie selbst den üblicherweise fidelen Belgiern den Appetit auf Moules-frites zu verschlagen vermögen. Der Tenor: Europa ist verloren. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis alles in rauchenden Trümmern liegt. Das Jüngste Gericht, es habe seinen Sitz verlegt – ins Diesseits und vor allem nach Brüssel.

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"Wir haben nichts anderes als die EU. Und bereits das ist, angesichts der historischen Bedingungen ein großes Wort."
Foto: Reuters / Yves Herman

Über kurz oder lang hatte es sich dann aber meistens wieder mit dem leidenschaftlichen Jammer. Zuletzt allerdings hellte sich die Stimmung auch zwischen den Wahlen nicht mehr sonderlich auf. Die schlechte Laune ist permanent in Europa, das Lamento inzwischen der politische Kammerton.

Nach Jahrzehnten der erhebenden Rhetorik, luftigen Moralisierens und idealistischer Freude am schönen Götterfunken haben Dystopien aller Art die europäische Eutopie abgelöst. Das "europäische Projekt", das zumindest etymologisch nach vorne gerichtet ist, scheint tatsächlich seine Zukunft verspielt zu haben.

Warum eigentlich?

Ist dem tatsächlich so? Brauchen wir Europa nicht mehr? Und wenn doch, warum eigentlich genau?

Fraglos, Europa ist – wieder einmal, und diesmal wirklich – in einer schweren, vielleicht in einer existenzbedrohenden Krise. Aber wenn Krisen zu sonst nichts gut sind, dann doch immerhin dazu, dass sie Zeiten der Unterscheidung sind. Sie zwingen uns dazu, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen, das Substanzielle vom Peripheren.

Die europäischen Völker und deren politische Vertreter müssen erklären, ob ihnen ihre Union noch brauchbar erscheint und was diese denn grundsätzlich ausmachen soll. Zur Disposition steht die Definition der gemeinsamen europäischen Lebensart. Die Krise, sie ist ein Synonym für die Selbstvergewisserung der EU.

Dass dabei kein Auge trocken bleiben kann, ist klar. Und dass dabei tief in die Stereotypenkiste gegriffen wird, lässt sich vermutlich auch nicht vermeiden. Denn Europa ist – wie die USA und China übrigens – ein "Kontinent", auf dem immer alles und sein Gegenteil zu finden ist. Und zwar gleichzeitig. Anders gesagt: Die Sachlagen sind auch in Europa diffus, Interessen gelegentlich widerstrebend und Widersprüche manchmal unauflösbar.

Schwerfälliger Hybrid

Natürlich, die Europäische Union ist eine mitunter schwer zu durchschauende, regelwütige Technokratie. Wer möchte das – und hier muss niemand erhitzt vom knusprigen Wahlkampf das gefährliche Acrylamid und Pommes-frites-Verordnungen erwähnen – bestreiten? Natürlich ist der schwerfällige Hybrid aus Bundesstaat und Staatenbund in vielerlei Hinsicht unzulänglich.

Natürlich hat der Binnenmarkt – in den 1980er-Jahren, auch so einer Krisenzeit, von Jacques Delors durchgeboxt – inzwischen einen so langen Bart wie manch ein kapitalismuskritischer Hipster, der das "Europa der Konzerne" so vehement wie naiv ablehnt.

Und natürlich ist es schwer nachzuvollziehen, dass Fortschritt sich in Brüssel oft in institutionellen Krämpfen ereignet und die Union dabei in ihrer komplexen Funktionsweise auf eine verwinkelte Weise doch irgendwie effizient wird.

Der Punkt bei alldem ist: Wir haben nichts anderes als diese EU. Und bereits das ist, angesichts der historischen Bedingungen, auf denen die Union basiert, ein großes Wort. Denn zwischen erkennendem Bemühen und blutiger, kriegerischer Realität lagen über Jahrzehnte Welten. Es grenzt an ein Wunder, dass Europa im Galopp über die Jahre nicht vom Stier gefallen ist.

Im Galopp kann einiges verlorengehen. Insofern zahlt es sich mitunter aus, innezuhalten und sich seiner selbst zu vergewissern.
Illustration: Armin Karner

Eine kleine, unvollständige Tour durch die Überlegungen über ein gemeinsames Europa: Novalis hat die "Connexion der europäischen Staaten" frühromantisch im poetischen Christentum verklärt. Victor Hugo spricht 1849 auf einem Pazifistenkongress in Paris von den "Vereinigten Staaten von Europa". Sein französischer Landsmann Aristide Briand schlägt 1930 in seiner Denkschrift über die Errichtung einer Europäischen Union einen engen Zusammenschluss der europäischen Staaten vor.

Vereinigte Staaten von Europa

Winston Churchill sagt 1946, kurz nach dem Ende des zweiten großen Krieges auf dem Kontinent binnen weniger Jahrzehnte, in seiner berühmten Zürcher "Rede vor der akademischen Jugend": "Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten. Nur auf diese Weise werden Hunderte von Millionen sich abmühender Menschen in die Lage versetzt, jene einfachen Freuden und Hoffnungen wiederzuerhalten, die das Leben lebenswert machen."

Emmanuel Macron schließlich ist der vorerst Letzte in einer langen Reihe von europäischen Staatsmännern, die ihre Visionen skizzieren und damit versuchen, der verzagten Union eine neue Richtung zu geben.

Vor einigen Wochen sagte der französischen Präsident "an die europäischen Bürger" gerichtet: "Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war Europa so wichtig. Und doch war Europa noch nie in so großer Gefahr. Der Brexit ist dafür ein Symbol. Ein Symbol für die Krise in Europa, das nicht angemessen auf die Schutzbedürfnisse der Völker angesichts der Umwälzungen in der heutigen Welt reagiert hat. Aber auch ein Symbol für die Falle, in der sich Europa befindet. Die Falle ist nicht die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, sondern die Lüge und die Verantwortungslosigkeit, die sie zerstören könnten."

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Emmanuel Macron: "Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war Europa so wichtig."
Foto: Reuters / Yoan Valat

In Europa müssten die Menschen ihre Freiheit verteidigen, ihren Kontinent schützen und zum Geist des Fortschritts zurückkehren. Macron: "Auf diesen Säulen muss unser Neubeginn in Europa ruhen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Nationalisten, die keine Lösungen anzubieten haben, die Wut der Völker ausnutzen. Wir dürfen nicht Schlafwandler in einem erschlafften Europa sein. Wir dürfen nicht weitermachen wie bisher und uns auf Beschwörungsformeln beschränken. Der europäische Humanismus erfordert Handeln."

Mangelware Einigkeit

Handeln also. Dafür allerdings bedarf es eines bestimmten Maßes an Einigkeit. Und diese ist Mangelware in Europa – und zwar sowohl zwischen Bürgern und Union als auch zwischen den jeweiligen Staatskanzleien in den einzelnen Hauptstädten.

Kurz nach dem Finanzcrash 2009 schrieb der deutsche Philosoph Jürgen Habermas im Essay Europa am Scheideweg: "Staaten kompensieren den Verlust an Problemlösungsfähigkeiten mithilfe internationaler Organisationen. Aber dies ist tatsächlich mit sinkenden Legitimationsniveaus bezahlt worden. Weil sich die internationalen Vertragsregimes von der Kette demokratischer Legitimation losgerissen und die nationalstaatlich etablierten Verfahren ausgetrocknet haben, verstärkt sich beides: sowohl die politische Notwendigkeit, demokratische Verfahren über die Grenzen des Nationalstaates hinaus zu erweitern, wie der Zweifel, ob das überhaupt geht."

Genau in diese Lücke stößt der Populismus unserer Tage. Er zahlt auf die gesellschaftliche Unterströmung gefühlter Marginalisierung und mangelnder Repräsentation bei vielen Bürgern ein, die nicht nur die EU gefährdet, sondern die Demokratie als solche infrage stellt.

Großbritannien und Ungarn

Das lässt sich in Großbritannien beobachten, wo der Brexit zu einer bedrohlichen politischen Systemkrise geführt hat. Ein anderes Beispiel ist Ungarn: Dort konnte man lange vermuten, Viktor Orbáns Rede von der "illiberalen Demokratie" sei bloß zynische Camouflage für die endemische Korruption in dem Land.

Inzwischen muss der politische Beobachter davon ausgehen, dass Orbán – wie alle langjährig regierenden Autokraten – tatsächlich das zu glauben beginnt, was er allenthalben herumerzählt. Zuletzt lobte er etwa in Kasachstan die dortige harte Diktatur als den demokratischen Regimen überlegen, weil diese für Stabilität sorge. Die "Tyrannei" des Individualismus, von der der für europäische Maßstäbe zumindest politisch verhaltensauffällige Puszta-Caudillo gerne spricht, hat unter den dortigen Despoten tatsächlich keine Chance.

Zum Zweiten erfordert Handeln auch ein Mindestmaß an politischem Führungswillen. Immerhin Emmanuel Macron ist dieser nicht abzusprechen. Dass der französische Präsident auf diverse visionäre Reden keine Antwort aus Berlin erhalten hat, ist auch den inneren Widersprüchen der Union geschuldet.

Der wenig ausgeprägte Führungswille des blassen Hegemons Deutschland etwa ist notwendige Bedingung für die Europäische Union und gleichzeitig ihre größte Schwäche. Die zaudernden Deutschen lähmen damit das gesamte europäische Werkl. Der nachhaltige Eindruck politischen Stillstands ist in einem solchen Setting kaum zu vermeiden.

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"Der wenig ausgeprägte Führungswille des blassen Hegemons Deutschland ist notwendige Bedingung und gleichzeitig größte Schwäche der Union."
Foto: Reuters / Fabrizio Bensch

Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder hat unlängst auf dem Wiener Judenplatz eine fulminante Rede gehalten, in der er viele der Entwicklungsfäden aus der Geschichte zusammengeführt und die Dinge ins Verhältnis gesetzt hat: Europa, sagte er am 9. Mai, sei mehr als seine Mythen – und meinte dabei insbesondere jenen einer Union, die auf plötzlich einsichtigen und kooperationswilligen Nationalstaaten gründe.

Die europäische Einigung gehe vielmehr auf den Bankrott der europäischen Kolonialreiche zurück. Statt der diversen verlorenen Empires in der Fremde hätten die Europäer zu Hause ihr eigenes, quasi gutes Reich gegründet. Dieses sei der größte Markt, die größte Zone der Rechtsstaatlichkeit, der effizienteste Puffer gegenüber den Härten der umgreifenden Globalisierung. Der (nationale) Wohlfahrtsstaat sei nur in einer solchen supranationalen Konfiguration abzusichern.

Bei der europäischen Einigung gehe es zudem nicht nur um ethische Erwägungen, um das Friedensprojekt Europa, erklärte Snyder. Es gehe eben auch um schnöde Machtpolitik. Um Macht, sich selbst im globalisierten Wettbewerb zu behaupten.

Und um die Macht, weltweit europäischen Einfluss geltend zu machen. Es musste ein Amerikaner kommen, um den in ihren politischen Instinkten immer noch kriegsversehrten Europäern wieder einmal deutlich zu machen, dass Macht auch für sie essenziell ist. Die Union mag möglicherweise eine Überlebensfrage für Europa sein. Politische Macht ist mit Sicherheit eine Überlebensfrage für die Union.

An Grundwerten nicht verzweifeln

Worauf kann sich diese Macht gründen? Natürlich auf wirtschaftlichen und politischen Einfluss. Vor allem – und noch immer – aber auf die Wirkkraft der europäischen Ideen. Was immer Orbán und Konsorten behaupten mögen: Freiheit, Pluralismus, Liberalismus, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung und Toleranz sind die Grundlagen für das europäische Lebensmodell, das noch immer als das attraktivste im globalen Vergleich gilt: "You have enemies because you have a future" – besser als Timothy Snyder kann man diesen Umstand nicht auf den Punkt bringen.

Wenn sich Europa in der Auseinandersetzung mit dem amerikanischen und dem chinesischen Modell behaupten will, darf es an diesen Grundwerten nicht verzweifeln, auch wenn sie derzeit nicht besonders nachgefragt sein mögen. Individuelle Freiheit, Solidarität, Menschenrechte, eine liberale Grundhaltung und auch eine gewisse Skepsis politischen Allmachtsansprüchen gegenüber sind das, was Europa derzeit vielleicht Effizienz kosten mag, aber es dennoch auf lange Sicht immun macht gegen die Verlockungen der Autokratie.

Dafür braucht es die Europäische Union. Und weil dieser Zweck so klar und zwingend ist, gibt es auch in Zeiten wie diesen keinen besonderen Grund zu lamentieren. (Christoph Prantner, 18.5.2019)