Foto: EBU/Thomas Hanses

Für die mäßige Qualität der musikalischen Beiträge des Jahrgangs 2019 kann man den manchmal überforderten Gastgeber, den enorm unter politischem Druck stehenden öffentlich-rechtlichen TV-Sender Kan, nicht verantwortlich machen. Nach den vielen zeitgemäßen und vielfältigen Beiträgen in Kiew 2017 und Lissabon 2018 senden die TV-Anstalten heuer maue Musik und dünnere Stimmen zur größten Musikshow der Welt. Daher konzentriert sich der Favoritenkreis auf wenige Beiträge, zumeist von Männern gesungen.

Bevor es losgeht, dürfen wir uns aber über schöne frühere israelische Beiträge freuen und während des weiteren Verlaufs der Show auf frühere Teilnehmer, die Songs von anderen Teilnehmern interpretieren, etwa Conchita Wurst den Siegersong "Heroes" des Schweden Måns Zelmerlöw von 2015 – in einer ganz ungewohnten Stimmlage. Und dann ist da natürlich noch Madonna, die nun doch auftritt.

1. Malta: Michela – "Chameleon "

Das Lied für die Teenager unter den Zuschauern. Sie konnte sich mit leichtfüßigem zeitgemäßem Pop ins Finale singen. Bewegen ist allerdings nicht so ihr Ding, deshalb schaut sie zwischen ihren Tänzern etwas unbeholfen aus. Die Komposition stammt aus dem Hause Symphonix, die voriges Jahr mit Österreich erfolgreich waren. Tipp: Mittelfeld.

2. Albanien: Jonida Maliqi – "Ktheju Tokë"

Die dramatische Ballade mit einem zutiefst albanischen Thema, der Rückkehr ins Land nach Zeiten der Migration, kam für viele überraschend ins Finale. Die erfahrene Sängerin, in ihrer Heimat sehr populär, singt punktgenau und weiß es gekonnt – im Einklang mit ihren Backgroundsängerinnen –, das Drama zu unterstreichen. Die einzige Diva dieses Jahrgangs. Tipp: Mittelfeld.

3. Tschechische Republik: Lake Malawi – "Friend of a Friend"

Die tschechischen Nachbarn liefern zum zweiten Mal in Folge einen sehr radiotauglichen Beitrag. Die Indiepop-Band aus Třinec rund um den Sänger Albert Černý liefert fröhlichen und guten Pop. Das wird den Radio-DJs unter den Moderatoren gut gefallen. Tipp: vorderes Mittelfeld.

4. Deutschland: S!sters – "Sister"

Das Duo Sisters wurde extra für den Song Contest gebildet, es besteht aus Laurita Kästel und Carlotta Truman, beide haben Casting-Show-Erfahrung. Laurita gewann – noch als Laura – 2002 den ORF-Kiddy-Contest. Der Song wurde bereits für den letztjährigen Vorentscheid beim Songwriter-Camp der Schweiz geschrieben, schaffte es aber nicht zu überzeugen. In Deutschland jedoch gewannen sie die Vorausscheidung. Beginnen wir mit dem Positiven: Die beiden haben sich enorm sympathisch und fröhlich präsentiert und waren in den Proben oft die Ulknudeln, die die Journalisten amüsierten. Der Song jedoch ist so stromlinienförmig brav, dass er sofort vergessen ist, nachdem man ihn einmal gehört hat. Vermutlich wird es am Sonntag die S!sters nicht mehr geben. Tipp: weit hinten.

S!sters wurde extra für den Song Contest kreiert. Fraglich, ob es das deutsche Duo am Sonntag noch geben wird.
Foto: EBU

5. Russland: Sergej Lazarev – "Scream"

Das Drama aus Russland erreicht zwar nicht die Herzen, aber beeindrucken tut der Sänger doch mit seinen Posen und geballten Fäusten. Wer Musical mag und Songs, die gar nicht aufhören können, sich zu steigern, wird dafür anrufen. Viele sehen ihn als Siegerkandidaten. Tipp: Top 5.

6. Dänemark: Leonora – "Love Is Forever"

Das Kinderlied aus Dänemark spaltet die Community vor Ort total. Entweder man liebt oder man hasst es (Ich gehöre zu Letzteren). Es wird Punkte aus dem Publikum erhalten, das gerne banale Schunkellieder mag. Juroren kann ich mir keine vorstellen, die so was belohnen. Tipp: hinteres Mittelfeld.

7. San Marino: Serhat – "Say Na Na Na"

Für die Serhat-Hasser gibt es bereits einen eigenen Ausdruck: Serhaters. Für viele ein Guilty Pleasure. Nein, er kann nicht gut singen, aber er schaut gut aus. Nein, der Song ist kein Meisterwerk, aber das hemmungslose Retro-Feeling ist nun einmal ein Guilty Pleasure. Tipp: weit hinten.

8. Nordmazedonien: Tamara Todevska – "Proud"

Der Empowerment-Song war ein Fan-Favourite im Vorfeld, was vor allem am großartigen Video lag. Ganz kann dieser Spirit nicht auf die Bühne übersetzt werden. Die Powerballade findet aber ihre Liebhaber, zumal dieses Genre langsam auszusterben scheint. Tipp: vorderes Mittelfeld.

9. Schweden: John Lundvik – "Too Late for Love"

Der Gospel-Song aus Schweden ist in seiner Gesamtheit einfach ein perfektes Song-Contest-Paket. Sympathischer Sänger, guter Pop, schöne Umsetzung und großartiger Gospel-Chor, der den Song so perfekt würzt, wie manche Imbisse hierzulande ihr Falafel-Pita. Großes Kino! Tipp: Top 5.

10. Slowenien: Zala Kralj & Gašper Šantl – "Sebi"

Das leise Stück, das so ganz und gar durch nichts besticht, fällt gerade dadurch auf. Slowenien hat es mit diesem doch mutigen Beitrag überraschend ins Finale geschafft, und irgendwie ist es schön, dass auch so ein Stück Platz beim Song Contest hat, auch wenn es weit weg von einer Favoritenrolle ist. Tipp: weiter hinten.

11. Zypern: Tamta – "Replay"

Die Fashion-Ikone aus Griechenland, die für Zypern startet, kam als eine Geheimfavoritin nach Tel Aviv, konnte diese Rolle aber nicht erfüllen. Zu unstimmig ist die Inszenierung, und für eine stilsichere Frau ist das Outfit schon etwas, nun ja, gewöhnungsbedürftig. Tipp: Mittelfeld.

12. Niederlande: Duncan Laurence – "Arcade"

Vermutlich der Gewinner des diesjährigen Song Contests. Der Song, die Stimme, die Emotion, da passt alles. Man muss schon sehr herzlos oder sehr abgelenkt sein, wenn man hier keine Gänsehaut bekommt. Duncan Laurence sitzt an seinem Klavier, ganz ohne große Inszenierung, nur mit gezielten und klugen Elementen. Er ist ein Musiker und Songwriter, kein Interpret. Heute könnte eine große Karriere starten. Tipp: Top 3, am ehesten auf Platz eins.

13. Griechenland: Katerine Duska – "Better Love"

Stimmlich einer der interessantesten Beiträge. Katerine Duska besticht mit ihrer dunklen Klangfarbe. Das Lied ist ein gut komponierter Song vom Indie-Künstler Leon of Athens. Die Inszenierung passt nur leider gar nicht zum Song. Die Inszenierung liefert eine eigenartige Gehör-Auge-Schere. Tipp: Mittelfeld.

14. Israel: Kobi Marimi – "Home"

Der Gastgeber wollte offenbar nicht 1978 und 1979 wiederholen, als Israel zweimal hintereinander gewann und den Song Contest 1980 aus finanziellen Gründen nicht ausrichten konnte. Kobi Marimi ist Musicaldarsteller und Barkeeper. Er schafft mit seinem nach Musical riechenden Song Emotionalität und hat eine tolle Stimme. Nahezu nach jeder Aufführung bei den Proben musste er weinen. Berühren tut er jedenfalls, auch wenn der Song mau bleibt. Tipp: weiter hinten.

Kobi Marimi ist der israelische Titelverteidiger.
Foto: EBU/Andres Putting

15. Norwegen: KEiiNO – "Spirit in the Sky"

Wer billigen Eurotrash mag, wird das mögen. Der Song, der alle Ingredienzen des Song Contests in einem Cocktail gemischt hat, um alle Zielgruppen zu bedienen, ist berechnende Oberflächlichkeit pur. Deshalb ist zu befürchten, dass das besser abschneiden wird als verdient. Ich tanzte zu diesem Trash ja selber schon und schämte mich. Tipp: hinteres Mittelfeld.

16. Großbritannien: Michael Rice – "Bigger Than US"

Man hätte im Brexit-Jahr ja ein klares Statement aus UK erhofft. Ein starkes Signal, dass man Teil der Eurovision-Familie bleibt und dass man das Zentrum der Popwelt ist. Man muss ja eh nicht gleich Adele schicken. Stattdessen bekommen wir aber Michael Rice. Was am meisten erstaunt: John Lundvik, der uns vorhin als schwedischer Sänger so begeisterte, hat diesen Song geschrieben. Als ob er einen Mitkonkurrenten eliminieren wollte. Tipp: weit hinten.

17. Island: Hatari – "Hatrið mun sigra"

Die satirische BDSM-Truppe, die es nur gibt, um den Kapitalismus weltweit abzuschaffen, sagt uns in ihrem Beitrag, dass Europa ziemliche Probleme hat. Denn der Hass wird siegen, wenn man da nichts dagegen unternimmt. Die Truppe ist schon sehr großartig und lustig, und wenn man genau hinhört, ist der Song eigentlich gar nicht mal so schlecht. Großes Theater! Tipp: Top Ten.

18. Estland: Victor Crone – "Storm"

Die Qualifikation dieses Songs kam eher überraschend. Der generische Song "Storm" wird vom in Estland lebenden Schweden Victor Crone dargebracht. Am spannendsten ist das Rätsel, wie die Gitarre verschwindet und wie durch Wunderhand wieder auftaucht. Sollte Ihnen das Rätsel aber egal sein, können Sie auch jetzt getrost eine Pinkelpause einlegen. Tipp: weiter hinten.

19. Weißrussland: ZENA – "Like it"

Der zweite Song, von dem man nicht ganz versteht, wie der es ins Finale schaffen konnte. Aber so ein treibender Disco-Stampfer, den wir schon in den frühen 2000er-Jahren zuhauf beim ESC hörten, scheint immer noch seine Anhänger zu haben. Warum auch immer. Tipp: weiter hinten.

20. Aserbaidschan: Chingiz – "Truth"

Der Popsong aus der Feder von Borislav Milanov ("Nobody but you" von Cesár Sampson) funktioniert auf allen Ebenen und könnte der Radiohit der diesjährigen Ausgabe werden. Er sieht gut aus, die Inszenierung ist interessant und spannend anzusehen. Der Song setzt sich richtig gut im Ohr fest. Tipp: Top Ten.

21. Frankreich: Bilal Hassani – "Roi"

Bilal Hassani wurde 1999 in Paris geboren, seine Eltern sind marokkanischer Herkunft. 2015 nahm Bilal Hassani an "The Voice Kids" teil und würde dort bekannt durch seine Interpretation von "Rise Like a Phoenix", alsbald war er auch ein Vorbild der LGBTQ-Jugend. Nach dem Sieg in der französischen Vorausscheidung "Destination Eurovision" wurde er mit Hassbotschaften überschüttet, Der Song "Roi" wurde von Madame Monsieur komponiert, die voriges Jahr Frankreich vertraten. Bilal hat eine hinreißende Umsetzung mit wunderbaren Tänzern auf die Bühne gestellt, die Diversität und Vielfalt zu feiern weiß. Tipp: Top Ten.

Bilal Hassani tritt für Frankreich an. Er war in seiner Heimat einem Shitstorm ausgesetzt.
Foto: EBU/Thomas Hanses

22. Italien: Mahmood – "Soldi"

Der Sohn eines ägyptischen Vaters und einer sardischen Mutter erzählt in seinem Lied "Soldi" vom Vater, der die Mutter verlassen hat und den mittlerweile erwachsenen Sohn um Geld anbettelt, statt ihm Liebe und Unterstützung zu geben. Mahmood gewann mit diesem eingängigen Song, der auch einige Worte Arabisch beinhaltet, das Sanremo-Festival, in Italien noch viel bedeutender als der ESC. Für derstandard.at hat er auch eines seiner seltenen Interviews gegeben (hier geht's zum Interview). Einer der Konkurrenten für die Niederlande. Tipp: Top 3.

23. Serbien: Nevena Božović – "Kruna"

Eine klassische Balkan-Ballade darf auch beim diesjährigen Song Contest nicht fehlen, wiewohl es in früheren Jahren deutlich bessere gab. Ins Finale hat es so ein Beitrag jetzt schon länger nicht mehr geschafft. Und ein bisschen beweist auch diese Nummer, wie schwach das erste Semifinale eigentlich war. Denn die Finalqualifikation ist auch in diesem Fall nicht so ganz nachvollziehbar. Tipp: weiter hinten.

24. Schweiz: Luca Hänni – "She Got Me"

Der DSDS-Sieger von 2012 überzeugt Teil Aviv, und "She Got Me", das klugerweise nicht "Dirty Dancing" betitelt wurde, ist in Tel Aviv der Partysong schlechthin. Luca Hänni könnte für das beste Schweizer Ergebnis seit Celine Dions Sieg 1988 sorgen. Der Song funktioniert, macht Spaß, die Umsetzung in Rot und Weiß ist sehr gelungen. Tipp: Top Ten.

25. Australien: Kate Miller-Heidke – "Zero Gravity"

Wie man einen unterschätzten Song so inszeniert, dass man plötzlich zum Favoritenkreis gehört, zeigt Australien. Das Lied ist bestimmt kein Meisterwerk, die Umsetzung auf der Bühne ist es allemal. Australien reizt wirklich alle Möglichkeiten aus – und am erstaunlichsten wohl die Tatsache, dass Kate Miller-Heidke bei dieser Akrobatik noch zu singen imstande ist und Koloraturen machen kann. Macht Spaß. Tipp: Top Ten.

26. Spanien: Miki – "La venda"

Zum Schluss eine kleine Theaterinszenierung aus Spanien und viel gute Laune, irgendwo zwischen Ballermann und Stierkampf. Man denkt sich bei jedem Mal Hören "Was für ein Schwachsinn" – und ertappt sich beim Mitwippen. Jedenfalls gute Laune zum Abschluss des diesjährigen Eurovision Song Contests. Tipp: Mittelfeld. (Marco Schreuder, 18.5.2019)