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EU-Beamte sind dienstvertraglich verpflichtet, in ganz Europa tätig zu werden, wenn das nötig ist.

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Von Karl dem Großen heißt es, er habe den größten Teil der Zeit seiner Regentschaft auf Reisen verbracht. Der Herr über das Fränkische Reich, der am Weihnachtstag des Jahres 800 in Aachen zum ersten Kaiser seit der römischen Antike gekrönt wurde, hatte auch gar keine andere Wahl.

Sein Karolingerreich war riesig. Und im Mittelalter gab es nun einmal weder Dienstlimousinen noch Regierungsflugzeuge, auch keine Hochgeschwindigkeitszüge, die zwischen den Metropolen in kürzester Zeit hin- und herbrausten.

Ein solches christlich geprägtes Staatsgebilde zu führen, das den halben Kontinent umspannte, war also schwierig. Kein Wunder, dass Karl I. am Ende seines Lebens körperlich ziemlich fertig war, dieser Sohn von Pippin und Bruder von Karl Martell (der Westfranken regierte), von Franzosen und Deutschen als Urahnen ihrer Nationalstaaten verehrt. In den Thermen zu Aachen suchte er im Alter seine Schmerzen zu lindern, die von den strapaziösen Trips samt seinem Hofstaat in seine vielen Pfalzen und Residenzen herrührten.

Ein Reich ohne Herrscher

Das Karolingerreich, das von Spanien beziehungsweise Frankreich über Deutschland bis Dänemark reichte, nach Italien, Slowenien bis Ungarn im Osten, kann man als eine Art Grundmuster der Europäischen Union sehen – allerdings ohne den Herrscher. Sie ist seit der Osterweiterung 2004 und 2007 auch noch viel größer.

Karls des Großen Leistung war es nicht nur, dass er Kriege führte und sein Reich gewaltig erweiterte, Bildung förderte. Er schaffte es auch, den vielen Ländereien eine ordentliche Verwaltung zu geben, es zu strukturieren – eine frühe Form des föderalen Zusammenhalts. Sehr modern.

Aachen, seine Lieblingspfalz im heutigen Dreiländereck von Belgien, Deutschland und den Niederlanden, war dabei nur ein Zentrum von vielen. Die Hauptstadt war dort, wo der Kaiser sich aufhielt. In unseren Zeiten spielt die historisch bedeutende Grenzstadt zwischen Köln und Brüssel mit dem Weltkulturerbe des Kaiserdoms, wo jahrhundertelang die Herrscher gekrönt wurden, politisch keine Rolle mehr.

Karlspreis

Nur die jährliche Verleihung des Karlspreises an eine Persönlichkeit, die sich um das gemeinsame Europa verdient gemacht hat, erinnert an die berühmte Tradition. 2018 erhielt Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron den Preis – so wie die meisten Gründerväter der EU, von Jean Monnet, Konrad Adenauer und Winston Churchill bis Helmut Kohl, Helmut Schmidt und Papst Franziskus. Für Macron hielt die deutsche Kanzlerin Angela Merkel eine (nicht gerade sehr berauschende) Ehrenrede.

Und was hat das alles mit der EU zu tun, diese mittelalterliche Reise- und Staatenorganisationsgeschichte? Unmittelbar nichts. Die Zeit der Kaiser, Pfalzgrafen und Herzogtümer ist vorbei. Zum Glück.

Die Europäische Union ist kein Staat, sondern eine Vereinigung souveräner demokratischer Staaten. Der allmächtige "gottgewollte" Kaiser ist zum Glück abgeschafft, EU-Ratspräsident Donald Tusk ein Titularherrscher ohne echte Macht.

Und doch könnte man sagen: Es gibt gewisse Parallelen zur Zeit Karls – nicht nur wegen der aufwendigen Reisetätigkeit der Politiker damals wie heute, sondern auch wegen der dezentralen Ordnung. Anders als von Populisten gerne beschworen, zeichnet sich die Union nicht dadurch aus, dass sie zentralisiert funktioniert, auf straffe Weise gesteuert von einer mächtigen Bürokratie in Brüssel.

Einzigartige Gemeinschaft

Die Gemeinschaft von 28 Staaten als eine Konstruktion "sui generis" – einzigartig – verfügt seit der Gründung als Montanunion von Deutschland, Frankreich, den drei Beneluxländern und Italien eher als Netzwerkkonstruktion vieler Zentren. Brüssel ist zwar offiziell die EU-Hauptstadt. Aber funktional läuft Europapolitik und Verwaltung nicht (nur) dort ab, sondern weit verstreut auf dutzende Städte quer durch Europa.

Das entspricht ganz dem Willen der beteiligten Länder, den sie in den EU-Verträgen seit Rom 1957 fest- und weitergeschrieben haben: Sie übertrugen seither wesentliche Dingen wie Währung, Kontrolle der Grenzen, Regelung der offenen Märkte oder den Außenhandel den gemeinschaftlichen Institutionen und gaben dafür Teile ihre staatliche Souveränität ab.

Aber: Diese Institutionen wurden ganz bewusst nicht in Brüssel konzentriert, wo die EU-Zentralbehörde angesiedelt ist, die Kommission mit rund 33.000 Beamten. Die hat ihren Sitz auch erst seit 1967 in der belgischen Hauptstadt. Ihr Vorgänger, die Hohe Behörde aus der Zeit der Gemeinschaft für Kohle und Stahl seit 1952, hatte Luxemburg als Hauptsitz. Der französische Gründervater Jean Monnet war der erste Präsident.

In Luxemburg hat alles begonnen. Deshalb sind der Sitz des Europäischen Gerichtshofes und der Sitz des Rechnungshofes auch seit jeher dort. Die EU-Ministerräte tagen an drei Monaten im Jahr dort.

Ehrenamtliche Abgeordnete

Und auch die Wiege des Europäischen Parlaments liegt in Luxemburg. In Gründerzeiten waren die EU-Abgeordneten jedoch nicht gewählt wie heute. Die Direktwahl gibt es erst seit 1979. Es waren nationale Parlamentsabgeordnete, die gleichzeitig (ehrenamtlich, ohne Gage!) ein Europamandat ausübten.

Der "Reisezirkus", der wegen der Kosten oft angeprangert wird, liegt der EU also gewissermaßen "im Blut". Deshalb gibt es noch heute einen Plenarsaal des EU-Parlaments in Luxemburg, die Verwaltung der Abgeordneten arbeitet dort, so wie rund 10.000 andere EU-Beamte, -Richter und -Prüfer auch.

Weil Luxemburg mit den Erweiterungen der 1970er- und 1980er-Jahre zu klein wurde, man mehr Übersetzer brauchte, wich die EWG nach Straßburg aus, in die eigentliche "Europastadt" am Rhein. Dort wurde bereits gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Europarat gegründet, ein großes Gebäude gebaut. Das EU-Parlament mietete sich dort ein. Es gab alle nötigen Infrastrukturen.

Ein eigenes EU-Parlamentsgebäude mit allem, was dazugehört, wurde in Straßburg erst 1999 eröffnet, von der französischen Regierung für 500 Millionen Euro gebaut – als Balance dafür, dass die Europäische Zentralbank mit der Einführung des Euro an die Deutschen, an Frankfurt ging.

So war das immer in der EU. Sie ist historisch eine einzige lange Wanderschaft, sie ist ein Kunstwerk der Improvisation, der schrittweisen, nie ganz durchgeplanten, nie zu Ende gedachten Entwicklung. Zwischendurch baute man in Brüssel ein drittes Parlamentsgebäude. Die Belgier waren schlau. Auch die Nato zog einst von Paris mit dem Hauptquartier in ihre Hauptstadt. Zehntausende EU- und Nato-Mitarbeiter sind ein großer Wirtschaftsfaktor.

Europäische Nomaden

Für EU-Beamte, die den Laden in Schwung halten müssen, bedeutet das ein abwechslungsreiches Leben. Sie sind dienstvertraglich verpflichtet, in ganz Europa tätig zu werden, wenn das nötig ist. Und das muss nicht nur in Brüssel, Luxemburg und Straßburg sein, sondern an dutzenden Orten in fast allen EU-Staaten.

Denn es gibt da noch dutzende sogenannte dezentrale EU-Agenturen für Spezialaufgaben. In Wien sitzt die Menschenrechtsagentur, in München das EU-Patentamt, in Kopenhagen die EU-Umweltagentur. Europol ist in Den Haag, die Arzneimittelbehörde in Amsterdam (bisher London).

Es gibt die Bankenaufsicht in Frankfurt, die Drogenbehörde in Lissabon, die Wertpapieraufsicht in Paris. Regierungen reden zwar oft vom dringend nötigen Sparen, wenn sie zum Beispiel ein Ende für den Standort Straßburg fordern, wie zuletzt Bundeskanzler Sebastian Kurz.

Sie sorgen aber stets dafür, dass nur nicht zu viel Macht an Brüssel abgegeben wird, es nicht zu schnell und effizient wird. Sie wollen auch mitnaschen am gemeinsamen Kuchen der Verwaltung. Zehntausende Mitarbeiter sind dadurch quer durch die EU verstreut. Viele ziehen alle paar Jahre mit Kind und Kegel um.

Aber das hat auch sein Gutes. Dadurch ist zumindest in der Beamtenschaft so etwas wie ein "europäischer Spirit" entstanden, ein vielsprachiger Geist, den der Schriftsteller Robert Menasse in seinem Roman Die Hauptstadt beschrieben hat. Diese "Maschine" funktioniert gut. Ohne Krieg. Karl der Große hätte seine Freude. (Thomas Mayer, 23.5.2019)