Groteske, Slapstick – und Maurice Ravels "Bolero": "Bacantes" im Volkstheater.

Foto: Laurent Philippe

In der Schlussszene sagt Großvater Kadmos: "Zum Ordnen blieb bei all dem Suchen nicht die Zeit." Was geordnet hätte werden sollen? Die Körperteile des zuvor von Thebens Frauen bei lebendigem Leib zerrissenen Herrschers Pentheus. Rund 2.420 Jahre nach der Uraufführung von Euripides' Tragödie Die Bakchen hat die Choreografin Marlene Monteiro Freitas diesem Drama den Rest gegeben.

Jetzt konnte auch das Festwochenpublikum im Volkstheater die Zerreißung des Theaterhits der Antike miterleben. Freitas nennt ihre postdramatische Großleistung Bacantes – Prelúdio para uma Purga. Die auf den Kapverden geborene portugiesische Künstlerin hat das wohlgeformte Drama mit bakchischem Furor zerstückelt und sich danach die Zeit genommen, aus den Bestandteilen eine karnevaleske Orgie zu zaubern. Dabei nahm sie den Begriff Karneval, der auf das lateinische "carnem levare" ("das Fleisch wegnehmen") zurückgeht, offensichtlich ganz wörtlich.

Ein singendes Hinterteil

An sich wäre diese methodische Zerfleischung bereits ganz reizvoll. Was die Bacantes aber so richtig in Fahrt bringt, ist deren von der ersten bis zur 130. Minute perfekte Ordnung. Freitas' extrem detaillierte Dramaturgie ist so genial strukturiert, dass der Eindruck eines heillosen Chaos keine Sekunde lang gestört wird. Drei Bakchen mit goldenen Turbanen, ein teilweise geblendeter Theiresias, vier Figuren in wechselnden Rollen, die Freitas nach eigener Eingebung hinzugefügt hat, und ein "Chor" aus fünf Trompetern sind die Akteure in diesem auf bissige Art fröhlichen Irrsinn.

Die Lautstärke schwankt zwischen ohrenbetäubend schrill und hinreißend zart, die Aktionen, Tänze und Situationen wechseln von Groteske über Slapstick bis zu zarter Poesie. Euripides' beleidigte Leberwurst Dionysos hat schon zu Beginn einen Gastauftritt als in ein Mikrofon singender, perücketragender Hintern. Mit den Ventilknöpfen der Trompeten wird Schreibmaschinenklappern imitiert. Und zwischendurch flimmert die Schwarzweiß-Filmdokumentation einer asiatischen Hausgeburt über die Hintergrundleinwand. Da sehen auch die Performer wie gebannt zu.

Wüste Übersteigerung

Wie schon frühere Arbeiten von Marlene Monteiro Freitas ist auch diese sinnlich, saftig und obszön. Diesmal kommt zur Ausgeburt einer das Absurde vergötternden Fantasie auch noch ein so referenzenlüsterner Musikscore dazu, dass dieses Stück seit seiner Uraufführung vor zwei Jahren in ganz Europa bejubelt wird. Ein bisschen bedauerlich ist bloß, dass Freitas inzwischen, vor allem bei den Texten, einige Passagen wieder entnommen hat. Zum Beispiel Zitate aus David Cronenbergs Film M. Butterfly (1993).

Diese letzten Worte vor einem Suizid während einer Performance in einem Gefängnis wurden von Freitas' geblendetem Thereisias rezitiert, bevor in Bacantes die Schlusssequenz einsetzt: eine Inszenierung von Maurice Ravels Bolero in wüster Übersteigerung. Da verwandelt die Choreografin die Münder der Bakchen in blutige Mäulchen, die die Tänzerinnen mit ihren Fingern wie Sternmull-Fresswerkzeuge aussehen lassen.

Maske, Verwandlung und Verzerrung sind die künstlerischen Lieblingswerkzeuge von Marlene Monteiro Freitas. So sieht dann auch ihre Neuordnung und monströse Rekonfiguration der Backchen des Euripides aus. Ihr Prelúdio (Vorspiel) zielt in Richtung Katharsis im Sinne einer Reinigung, verwandelt sich aber in eine rauschende "Purga". Dieses Wort bedeutet im Portugiesischen ebenfalls Reinigung. Aber im Sinn einer Spülung – in den Abfluss. Das Publikum schwankte zwischen Abgang und Ovation. (Helmut Ploebst, 20.5.2019)