STANDARD: Nach dem Friedensvertrag von 2016 in Kolumbien war international der Optimismus sehr groß. War das aus heutiger Sicht falscher Optimismus?

Sachseder: Die Vertragspartner – die größte linke Guerilla Gruppe FARC und die neoliberale kolumbianische Regierung unter der damaligen Präsidenten Manuel Santos könnten unterschiedlicher nicht sein. Vor dem Hintergrund stellte der Friedensvertrag natürlich einen Meilenstein dar. Aber die Realität sieht anders aus: Seit 2016 wurden über 680 soziale AktivistInnen umgebracht. Vergewaltigungen und Vertreibungen gehen weiter. Ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht, obwohl die internationale Gemeinschaft und auch die Politikwissenschaft im Speziellen oft von Frieden sprechen.

STANDARD: Sie haben in Kolumbien mit vielen Frauen gesprochen, die von Gewalt betroffen sind. Was haben die erzählt?

Sachseder: Ganz zentral für viele Frauen war der Zugang zu Land und ökonomischen Ressourcen. Viele haben selbst auf dem Land gearbeitet und konnten so an (finanzieller) Unabhängigkeit gewinnen – aber nur, bis sie dann von dem fruchtbaren Boden vertrieben wurden. Eine meiner Interviewpartnerinnen, María (Pseudonym), ist beispielsweise aus Chocó, einem Bundesland im Nordwesten, nach Cartagena, einem ehemaligen Sklavenhafen, geflohen. Die Stadt ist heute eigentlich ein Touristenziel und bekannt für die koloniale Architektur. Für María war sie trotzdem kein sicherer Zufluchtsort, sondern ein Schmelztiegel, in dem Paramilitärs, Guerillakämpfer, Drogenhändler und organisiertes Verbrechen aufeinandertreffen. Sie wurde dort erneut von einem ehemaligen Paramilitär vergewaltigt und ist bis heute stark traumatisiert. María ist aber kein Einzelfall. Viele der Interviewpartnerinnen waren ähnlichen Gewaltformen ausgesetzt.

María ist aus ihrer Heimat, dem Departamento Chocó im Nordwesten des Landes, vertrieben worden.

STANDARD: Welche Frauen sind besonders von Gewalt betroffen?

Sachseder: Unverhältnismäßig oft indigene und afrokolumbianische Frauen aus der Peripherie, also aus den ländlichen Gegenden.

STANDARD: Also diejenigen, die ohnehin schon wenig haben?

Sachseder: Genau. Und das ist kein Zufall. Besonders sichtbar war der Konflikt in jenen Gebieten, in denen es einen großen Anteil marginalisierter Bevölkerungsgruppen und gleichzeitig viele Rohstoffe, wie Kohle und Gold, gibt. Die Bevölkerung wird von dem ressourcenreichen Land vertrieben und nicht zuletzt können dafür neben den lokalen Konfliktparteien auch globale ökonomische Akteure verantwortlich gemacht werden. Der Ursprung dieser Benachteiligung liegt schon in der Kolonialzeit.

STANDARD: Inwiefern?

Sachseder: Vor 1492 war die Bevölkerung in Kolumbien nicht in jene Gruppen unterteilt, die wir heute kennen Durch den Kolonialismus wurden den Menschen Identitäten aufgezwungen und neue Hierarchien geschaffen. So ist auch die These meiner Dissertation: Durch die Konstruktion dieser negativ konnotierten Identitäten kam es zu einer gewissen Dehumanisierung, die als Rechtfertigung diente: Weder indigene noch afrokolumbianische Frauen hatten in der Folge das Recht auf Menschsein. Deshalb konnten sie auch so leicht vergewaltigt und vertrieben werden. Diese politische Gewalt ist somit kein Kollateralschaden des Konflikts. Sie dient unter anderem als eine zentrale Waffe, die gezielt gegen die Bevölkerung gerichtet wird, um auf Ressourcen zugreifen und diese extrahieren zu können.

STANDARD: Der Friedensvertrag setzt dem kein Ende?

Sachseder: Der Vertrag ist sehr inklusiv. Die Zivilgesellschaft und lokale Gruppen, in denen viel Aufklärungsarbeit geleistet wurde, wurden mit einbezogen. Dafür, dass die Gewalt kein Ende findet, ist vor allem die fehlgeschlagene Demobilisierung paramilitärischer Gruppen verantwortlich, die oft ganz eng mit dem Staat verbandelt sind und im Interesse multinationaler Konzerne agieren.

STANDARD: Dann sind der Staat und die Konzerne direkt für die Gewalt verantwortlich?

Sachseder: 2007 gab es bereits eine Erklärung von Chiquita, einem der größten Bananenexporteure der Welt, Paramilitärs und private Sicherheitsfirmen finanziert zu haben – damit hat der Konzern auch teilweise ganz aktiv zur Vertreibung der Bevölkerung von ihrem Land beigetragen, um dort weiterhin Bananen anbauen zu können. Daran hat sich bisher relativ wenig geändert. Chiquita ist nur ein Beispiel von vielen multinationalen Konzernen, die in Kolumbien operieren. Menschenrechtsverletzungen werden außer Acht gelassen, und nicht zuletzt profitiert der kolumbianische Staat direkt von internationalen Investitionen.

STANDARD: Investiert auch Österreich?

Sachseder: Die österreichische Wirtschaftskammer zum Beispiel hat letztes Jahr den ehemaligen Präsidenten Juan Manuel Santos eingeladen, um über neue Investitionsmöglichkeiten nach der Befriedung zu sprechen.

STANDARD: Gewalt geht auch von der Farc-Guerilla aus, in deren Lager Sie einige Zeit verbracht haben...

Sachseder: Viele meiner Interviewpartnerinnen haben angegeben, dass ein Großteil der Gewalt von Paramilitärs ausging, allerdings ist natürlich auch die Farc ein Konfliktakteur, der vor allem an Zwangsabtreibungen beteiligt war. 2016 und 2017 hatte ich Kontakt zu ihnen. 2017, nach der Demobilisierung der Guerilla, habe ich für meine ethnographische Forschung dann auch einige Zeit in einem der Farc-Lager verbracht.

STANDARD: Wie war das für Sie?

Sachseder: Die Fahrt zu dem Lager war für mich wegen der prekären Sicherheitslage schon ein Desaster. Wenn beispielsweise paramilitärische Kräfte herausbekommen hätten, dass ich zu einem Farc-Lager bin, wäre ich wohl auch zu einem Ziel geworden. Ich musste beispielsweise vier Mal das Taxi wechseln, um von mir abzulenken, obwohl die UN zu dem Zeitpunkt das Lager bereits "beschützt" hatte.

STANDARD: Wie lebten die Farc-Kämpfer?

Sachseder: Die Farc muss man sich als marxistisch-leninistische Gruppe vorstellen, die sehr diszipliniert und hierarchisch strukturiert ist. Das heißt, um fünf Uhr morgens war Frühstück, danach politische Diskussion. Da konnte fast jeder Gramsci, Marx und Lenin zitieren. Dahinter steckt aber auch eine politische Strategie, das dient der "Causa", wie sie immer gesagt haben, nämlich der Übernahme des Staates durch die Farc. Die Guerilla hat mich freundlich aufgenommen. Ich habe mein Forschungsinteresse erklärt und dass ich meine Position als Forscherin bewahren möchte. Da die Balance zu halten, war teilweise gar nicht so einfach, weil man beginnt, sich mit seiner Umgebung zu identifizieren und hinter die Kulissen zu blicken. In dem Lager waren auch Farc-Kämpferinnen.

STANDARD: Wie viele sind das?

Sachseder: Fast 50 Prozent. Viele von ihnen sind nicht unbedingt aus ideologischen Gründen beigetreten, sondern lebten oft in ihrem Dorf; das wurde überfallen und dann hatten sie die Wahl: Entweder sie erfahren selbst Gewalt oder sie schließen sich der Guerilla an. Bei der FARC selbst wurde ihnen oft sogar Bildung angeboten und sie wurden zu Krankenschwestern, Pflegekräften, Zahnärztinnen ausgebildet, was woanders durch die fehlende Infrastruktur auf dem Land gar nicht möglich gewesen wäre.

STANDARD: Wie kann sich die Situation in Kolumbien in Zukunft ändern?

Sachseder: Auch die internationale Gemeinschaft hat eine Verantwortung, nicht zuletzt weil wir durch unseren Konsum und Lebensweise jeden Tag dafür sorgen, dass die Gewalt, die bei uns im globalen Norden kaum sichtbar ist, weiterhin auf fruchtbaren Boden stößt und globale Konzerne eben auch zu politischer Gewalt beitragen. Wenn das in Zukunft nicht anerkannt oder in die Verhandlungen, auch mit der anderen Guerilla, der ELN, nicht einbezogen wird, dann erscheint ein Ende der Gewalt relativ unwahrscheinlich. (Milena Pieper, 6.6.2019)

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Die 37-jährige Yeimy wurde von vier Farc-Kämpfern vergewaltigt. Gemeinsam mit ihren Kindern Paula und Juan und Reuters-Reportern besuchte sie 2018 den Ort im Departamento Tolima im Zentrum Kolumbiens, der bis Anfang der 2000er ihr Zuhause war.
Foto: Reuters/Nacho Doce