STANDARD: Mögen Sie Fahnen?

Erwin K. Bauer: Ich liebe Fahnen. Fahnen sind super.

STANDARD: Warum das denn?

Bauer: Weil sie so einfach sind. Sie sind alltäglich, stark und eben reduziert. Sie repräsentieren also alles, was gutes Design ausmacht. Und die Geschichten dahinter sind spannend. Meistens.

STANDARD: Wann ist eine Fahne eine gute Fahne?

Bauer: Es geht um ein Wechselspiel. Eine Fahne repräsentiert eine Identität, eine Gruppe von Menschen, eine Einheit. Sie ist dann gut, wenn sie die Persönlichkeit dieser Einheit rüberbringt und sich diese Gruppe mit der Fahne identifizieren kann.

STANDARD: Aber wer identifiziert sich heute noch wirklich mit Fahnen?

Bauer: Denken Sie nur an Fußball. Ein Ländermatch beginnt mit der Hymne, mit Fahnen, mit dem Bundesadler. Bei alldem handelt es sich um Symbole. Wenn es losgeht, identifizieren sich sehr viele Österreicher damit. Die Gruppe begeistert sich zwar für den Fußball, dennoch entfalten diese Zeichen in jenem Moment ihre Wirkung.

Magda Rawicka brachte einen Reigen aus EU-Fähnchen in Reih und Glied, Lukas Friesenbichler fotografierte die Parade.
Foto: Lukas Friesenbichler

STANDARD: Ist das nicht anachronistisch?

Bauer: Eine Fahne ist per se anachronistisch, weil sie eine Geschichte beschreibt. Denken Sie an die britische Fahne. Die ist wie ein Logbuch der Geschichte. In der Fahne lassen sich das Andreaskreuz, das Georgskreuz und vieles mehr ablesen. Klar ist das anachronistisch, aber es stellt einen Status quo dar. Die Fahne ist in digitalen Zeiten ein unglaublich langsames Medium und natürlich nicht tagesaktuell. Eine Fahne hat ein völlig anderes Tempo. Sie erzählt zum Teil von Jahrhunderten. Die Fahne muss nicht schnell sein. Sie darf langsam sein.

STANDARD: Sprechen wir über das Design von Fahnen. Wie gestaltet man eine Fahne?

Bauer: Die Grundlagen einer Fahnenkonstruktion beruhen auf der Vexillologie, der Flaggenkunde, die als Begriff erst 1959 geprägt wurde. Da gibt es ein paar Grundformen wie Kreuze oder Streifen, Flächenteilungen etc. Das ist wie ein Baukasten, an dem man sich bedienen kann.

STANDARD: Wie entstand dieser Baukasten?

Bauer: Flaggen stammen ursprünglich aus der Seefahrt, bei der man auf sehr große Distanzen auch bei schlechtem Wetter Freund von Feind unterscheiden und schnelle Entscheidungen treffen musste. Daraus ergibt sich diese Purheit und Reduktion. Allein das macht das Design gut. Die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten sind sehr begrenzt. Eine sehr detailreiche Flagge ist eine schlechte Flagge. Auch heute noch. Dieser Umstand lässt gute Fahnen auch in der digitalen Welt bestehen. Sie lässt sich in jeder Größe reproduzieren. Auch noch so klein lässt sie sich erkennen.

STANDARD: Welche europäische Flagge ist Ihre Lieblingsflagge?

Bauer: Weil ich nicht will, dass die Briten aus der EU austreten, ist es die britische. Man sieht, auch hier geht es ganz offensichtlich um eine emotionale Aufladung. Außerdem ist sie formal sehr charakterstark.

STANDARD: Welche europäische Flagge würden Sie optisch als am wenigsten gelungen bezeichnen?

Bauer: Je jünger die Flaggen sind, desto kritischer wird es. Nehmen wir Bosnien-Herzegowina her. Die zeigt einen blauen Grund, ein gelbes Dreieck, das angeblich drei Bevölkerungsgruppen repräsentiert, plus eine Leiste von Sternen, die an die EU angelehnt sind. Formal ist sie hässlich, aber wenn man sich die zahlreichen Vorgängerflaggen und ihre Geschichte ansieht, funktioniert sie ganz gut. Und hat eine starke Aussage.

STANDARD: Sind jüngere Flaggen in der Regel schlechtere Flaggen?

Bauer: Sagen wir es so: Vielleicht müssen wir uns erst an sie gewöhnen. Sie haben noch keine Aufladung ...

STANDARD: ... im Vergleich zur englischen oder amerikanischen Flagge.

Bauer: Genau, diese sind tausendfach zitiert. Denken Sie an die unzähligen politischen Illustrationen, in denen die amerikanische Flagge zu sehen ist. Das ist in jedem Kopf abgespeichert.

STANDARD: Wie würden Sie den Job angehen, eine neue Flagge zu entwerfen?

Bauer: Ich sehe in der Regel keinen Grund, neue Flaggen zu gestalten. Ich würde dazu raten, mit den bestehenden Flaggen zu arbeiten. Außer es gibt politische Gründe.

STANDARD: Was könnte so ein Grund sein?

Bauer: Nehmen wir an, europäische Länder würden noch näher an die EU heranrücken. In so einem Fall könnte man über ein Redesign ihrer Flagge nachdenken.

STANDARD: Wie könnte das aussehen?

Bauer: Formal würde sich ein Design mit einem Kreis anbieten, das die Gemeinschaft repräsentiert. Das kommt ja auch in der EU-Flagge vor.

STANDARD: Was sagen Sie zur EU-Flagge?

Bauer: Schauen Sie sich die amerikanische Flagge an und denken Sie an den Wahlkampf zurück. Es wurden immer wieder Elemente aus der Flagge zitiert, die Farben, Symbole etc. Im blau-roten Logo, das für Obamas erste Kampagne entworfen wurde, sind die Streifen der Flagge, eine aufgehende Sonne, aber keine Sterne zu sehen. Trump hat sie dann sehr wohl wieder verwendet. Sterne sind eine Art militärische Abzeichen. Jetzt frag ich mich ein bisschen, wie die Sterne in die EU-Flagge gekommen sind. Sie stehen zwar auch für Hoffnung, sind im Unterbewusstsein aber auch anders aufgeladen. Den Kreis und die Gemeinschaft find ich gut abgebildet, den Sternen steh ich kritisch gegenüber.

Flaggenvielfalt in Tel Aviv anlässlich des Song Contests im Mai 2019.
Foto: APA/MARTIN FICHTER-WÖSS

STANDARD: Lassen Sie uns über die österreichische Fahne sprechen. Es geht die Mär, dass sie auf die Belagerung von Akkon im 12. Jahrhundert zurückgeht. Angeblich symbolisiert sie den blutgetränkten Waffenrock des Kreuzfahrers Leopold V. Der weiße Streifen geht auf die Entfernung seines Schwertgurtes zurück.

Bauer: Das ist ein Mythos, aber diese Geschichte zeigt ganz gut, was mit Fahnen passiert. Man kreiert einen Mythos und lädt die Fahne mit diesem auf. Genau darum geht es. Um Symbole, um Charakter und Stärke. Deswegen gibt es ja auch Adler und Löwen auf Flaggen.

STANDARD: Und keine Mäuse.

Bauer: Genau.

STANDARD: Aber ist denn das alles noch irgendwie zeitgemäß?

Bauer: Denken Sie an die Fahne von Katalonien, das ja noch kein Nationalstaat ist. Mit ihr verhält es sich ähnlich wie mit der österreichischen, auch dort sollen die roten neben den gelben Streifen für Blut stehen. Und jetzt wird diese Flagge wieder neu aufgeladen, denn die Katalanen schmücken ihre Häuser mit sogenannten "yellow ribbons" als Zeichen des Protests und der Hoffnung. Die Ribbons sind "schneller" als die Fahne, stellen aber ein Zitat aus der Flagge, aus der nationalen Identität dar. Die Fahne funktioniert also auch heute noch als Absender.

STANDARD: Das heißt, man könnte die gelben Westen in Frankreich als eine Art tragbare Fahnen sehen?

Bauer: Sagen wir, sie stehen auch für eine Gruppe. Die Westen funktionieren schneller und aktionistischer als die Fahne.

Die Grundlagen der Fahnenkonstruktion beruhen auf der Vexillologie, der Flaggenkunde, die aus einem Teilgebiet der Heraldik entstand. Grundformen von Flaggen sind u. a. Kreuze, Flächenteilungen oder Streifen.

STANDARD: Zurück zur österreichischen Fahne. Finden Sie sie gelungen?

Bauer: Sie ist so einfach wie möglich. Ich finde sie total in Ordnung. Das Einzige, was missglückt ist, ist der Adler im Redesign bei der österreichischen Polizei. Er wirkt verhungert, und die Proportionen stimmen auch nicht.

STANDARD: Das dunkelste Kapitel, auch in Sachen Flaggendesign, ist die Hakenkreuzfahne. Es handelt sich um ein einfaches Symbol, das für ein System stand, das vielen Millionen Menschen den Tod brachte. Wie stark war die Wirkung der Fahne wirklich?

Bauer: Man möge mich nicht falsch verstehen, aber da war einfach die "Kampagne" gut, natürlich im Sinne der Kampagne, nicht im Sinne der Absichten. Das Kuriose ist, dass es sich beim Hakenkreuz um ein jahrtausendealtes Symbol handelt, was wiederum dieses Thema der Aufladung belegt. Eigentlich handelt es sich um ein Glückssymbol, das missbraucht wurde. Bei diesem Thema geht es auch nicht nur um eine Fahne, sondern um eine allumfassende Identity.

STANDARD: Sie haben täglich mit Farben und Symbolen zu tun. Was empfinden Sie, wenn Sie die Hakenkreuzfahne sehen? Gehen da die Alarmglocken an?

Bauer: Ja, ganz laut! Im Bereich des Designs ist Folgendes sehr spannend: Wenn man die Farben Weiß, Rot, Schwarz in einer ähnlichen Dosierung verwendet – auch ohne Hakenkreuz -, wird sofort etwas hineininterpretiert. Als Designer muss man sehr vorsichtig sein, was die Mischung von Zutaten betrifft. Diese Identity der Nationalsozialisten war so gut gemacht, dass wir heute noch darunter leiden müssen, weil wir diese Nische der Gestaltung nicht besetzen dürfen. Dasselbe gilt für die Frakturschrift. Auch da heißt es, behutsam zu sein.

STANDARD: Was wäre eine moderne Alternative zur Flagge? Anders gefragt, was geschähe, wenn man die Flaggen abschaffen würde?

Bauer: Da müsste man zuerst die Nationalstaaten abschaffen. Die Fragen lauten eher: "Sind wir Gruppen, die sich voneinander abgrenzen wollen oder müssen? Müssen wir Grenzen haben, oder können wir sie im Sinne einer gemeinsamen globalisierten Welt auflösen?" Würden wir unsere nationalen Identitäten in diesem Europa auf ein anderes Level legen, könnte man auch über die Flaggen nachdenken. Aber verschwinden würden sie nicht, eher verblassen.

STANDARD: Redet man von Flaggen, kommt man auch am Begriff Heimat nicht wirklich vorbei.

Bauer: Man kann Flaggen leicht nationalistisch missbrauchen. Es geht immer um eine Frage der Tonalität. (Michael Hausenblas, RONDO, 26.10.2019 )