Missbrauch von Flüchtlingsschicksalen für den Kunstmarkt oder wichtige Aufklärung? Ai Weiweis jüngere Werke (hier ein Flüchtlingsboot aus Bambus) sind nicht unumstritten.

Kunstsammlung NRW

"Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns Flüchtlinge nennt", schrieb Hannah Arendt 1943 in ihrem Aufsatz "Refugees". Für den 61-jährigen Ai Weiwei ist das Statement der einst aus Deutschland vertriebenen Philosophin offenbar so aktuell, dass er es als Schriftzug in die Installation Life Cycle von 2018 integriert hat, ein mehr als 17 Meter langes Schlauchboot aus Bambus und Sisalgarn, das im K 21, neben dem K 20 das zweite Museum der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Zuflucht gefunden hat.

Nicht nur um diese Kunst gewordene Anklage kommen die Besucher in dem lakonisch "Ai Weiwei" betitelten Werküberblick nicht herum. Auch die 40 Kleiderständer mit gewaschener und liebevoll gebügelter Wäsche von Geflüchteten müssen durchlaufen werden. Es stecken einfach zu viele Schicksale in Laundromat, um übergangen zu werden, zu viele Gestrandete im griechischen Flüchtlingslager Idomeni, das 2016 plötzlich geräumt wurde, ohne dass es genügend Zeit gegeben hätte, das wenige Hab und Gut einzupacken.

Flüchtlings-Selfies

Wer den Dreck und die Not vermisst, bekommt sie nachgeliefert, als Tapete aus mehr denn 17.000 iPhone-Fotos. Viele strahlende Gesichter, Dankbarkeit. Aber auch jene, die skeptisch bleiben. Vielleicht aus Erschöpfung. Vielleicht aus dem Gefühl heraus, wegen der Karriere eines Kunstweltstars für ein Selfie missbraucht zu werden.

Und natürlich drängt sich die Frage auf, ob man es nun mit einem geschäftstüchtigen Zyniker zu tun hat, der den Voyeurismus bedient, oder mit einem Aufklärer, der die Konfrontation mit einer unliebsamen Wahrheit fern der üblichen Nachrichtenbilder erzwingt – angetrieben von der eigenen Erfahrung der Migration aus einem Land, das ihn vor gar nicht so langer Zeit zum Staatsfeind erklärt hatte.

Denn nach Idomeni verschlug es Ai zu den Dreharbeiten des Dokumentarfilms Human Flow, kaum dass er 2015 seine Isolationshaft hatte verlassen können und auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise nach Berlin gezogen war. In China hatte er immer wieder Menschenrechte, Meinungs- und Pressefreiheit gefordert und solange auf die Verzahnung von Ethik und Ästhetik gepocht, bis die Kommunistische Partei die Geduld verlor.

Dissident aus Verpflichtung

2011 wurde der Quälgeist unter Hausarrest gestellt. Ein Labyrinth aus Eisenboxen gewährt Puppenhaus-Einblicke in diese Lebensphase, als zwei Geheimpolizisten dem Dissidenten bis auf die Toilette folgten. Wie in Putins Russland war der Grund für den totalitären Terror schnell zur Hand: eine vermeintliche Steuerschuld von 1,7 Millionen Euro.

Ai zahlte sie ab, mithilfe unzähliger Spender aus der ganzen Welt. Die Schuldscheine sind Teil der Installation Sunflower Seeds. Sie flankieren ein ganzes Feld handgefertigter Sonnenblumenkerne aus Porzellan – eine hundert Tonnen schwere Welle des Widerspruchs, zugleich auch das Resultat einer demütigenden Erfahrung, die Ais Drang zum Aktivismus noch verstärkt hat.

Schließlich war schon sein Vater, ein berühmter Dichter, in das brachiale Strafsystem der Kulturrevolution geraten. Ai wuchs seit frühester Kindheit mit Verfolgung auf. Das verpflichtet. Wenn er nicht gerade für den inhaftierten Wikileaks-Gründer Julian Assange demonstriert, prozessiert er gegen einen Geschäftspartner von Volkswagen, der eines seiner Werke unautorisiert in einer Werbebroschüre verwendet hatte.

Auch Kolonialzeit ist Thema

Und auch die Vergangenheit der Kolonialzeit ist ihm in der Ausstellung eine klare Haltung wert. Vergoldete Figuren chinesischer Tierkreiszeichen stellen eine Verbindung zu den Brunnenskulpturen her, die zum Sommerpalast von Beijing gehörten und vor 150 Jahren von französischen und britischen Soldaten entwendet wurden.

Keine Recherche ist Ai zu aufwendig, kein Gegner zu groß. Die Projekte sind kostspielig – weswegen er die Aufmerksamkeit der Medien bewusst sucht. Für den Idealisten im Provokateur geht die Rechnung schon auf, wenn er etwa an das Erdbeben von Sichuan erinnern kann, bei dem 2008 auffällig viele Schulgebäude einstürzten, eine Tragödie, die der Pekinger Regierung kaum eine Notiz wert war. Ai durchaus: Er ließ 164 Tonnen Stahlstäbe der schlampigen Konstruktionen aus dem Schutt bergen und für Straight geradehämmern – ein vergeblicher Versuch, die Fehler anderer rückgängig zu machen, aber auch eine Botschaft mit einer gewohnt einprägsamen Metapher.

Im K 20 liegen die Beweisstücke des Versagens in den Transportkisten. Man könnte sie auch für Särge halten, mit aufwühlender Sicht auf die Namen der verunglückten Kinder an den Wänden. (Alexandra Wach, 22.5.2019)