Lernen wann, wo und mit wem man will.

Der achtjährige Bub, der alle Fußballer der Profiligen in- und auswendig kennt. Der Mitarbeiter, der die Firma auch außerhalb der Arbeitszeiten unermüdlich pusht. Der Pensionist, der innerhalb weniger Wochen ein Musikinstrument erlernt: Wir alle lernen nebenbei und ohne Anstrengung, wenn wir von etwas begeistert sind. Wir boarden via App unseren Flug, tindern per "Wisch & Weg" oder basteln via Youtube ein Vogelhaus. Das Wissen eignen wir uns quasi im Schlaf an – mal schneller, mal langsamer, aber immer so, wie es für uns genau richtig ist.

Ich glaube: Um auf der Bühne weltverändernder Revolutionen noch mitzuspielen, bedarf es einer radikalen Umkehr dessen, was bisher in Schulen, Universitäten und Firmen über Lernen gelehrt wird. Im Fokus steht dabei eine im Grunde simple Idee: Menschen lernen das, was sie begeistert, was für sie Relevanz hat und was andere in ihrem Umfeld vormachen. Menschen, die so lernen, fühlen sich selbstwirksam und das motiviert ganz von selbst. Das sogenannte Self-directed Learning bringt – angefangen in der Schule – langfristig motivierte Mitarbeiter hervor, die mit Mut, Köpfchen und Eigeninitiative die Wirtschaft vorantreiben.

Viel Geld, wenig Wirkung

Viele Unternehmen setzen bei der Weiterbildung nach wie vor auf den Push-Ansatz: Online- oder Offline-Schulungen sind strikt vorgeschrieben. Doch der kurzfristige Lerneffekt verpufft schnell. Das kostengünstige selbstgesteuerte Lernen, das dem traditionellen Ansatz komplett entgegengesetzt ist, stärkt dem Einzelnen den Rücken: Der Lernende übernimmt die volle Kontrolle darüber, wie, was und wann er lernen möchte. Und das macht einen bedeutenden Unterschied.

Laut einem aktuellen Studienbericht der britischen Firma Towards Maturity verbessert Self-directed Learning nicht nur den Lernprozess selbst, sondern auch die Geschäftsergebnisse signifikant. Es zeigt sich also: Self-directed Learning ist kein sinnbefreites Buzzword, sondern bringt messbaren Erfolg für Unternehmen.Software- und Tech-Unternehmen wie Adobe oder Iomart sind Vorreiter für selbstgesteuertes Lernen. Die Mitarbeiter bekommen, je nach Mindset des Unternehmens, entweder Lernvorgaben – zum Beispiel in Form von angebundenen Programmen und Wikis an das hausinterne Learning-Management-System – oder, in aller Konsequenz, gar keine Vorgaben mehr. Das fördert Eigeninitiative.

Kitt für Teamwork

Die freie Auswahl der Lerninhalte ermöglicht es Mitarbeitern, für sie relevante Inhalte auszuwählen, die sie am Arbeitsplatz erwerben und anwenden. Durch die Flexibilität müssen sie sich selbst organisieren – eine Fähigkeit, die leider sehr oft schon in jungen Jahren, nämlich meist beim Frontalunterricht in der Schule, abhandenkommt. Das ist der Kitt für Teamwork.

Neurobiologen wie Gerald Hüther erklären, dass das Gehirn umfänglich lernt, wenn es etwas von selbst herausfindet und sich so Zusammenhänge, Regeln, neue Fertigkeiten, mathematische Gleichungen erschließt. Der Drang dazu – Neugierde – ist bereits Kindern zu eigen und gehört zur Grundlage des Menschseins. Das Lernen fällt leicht, und das Gehirn merkt sich Inhalte, Abläufe und Vorgänge. Kurz: Wir verändern unser Verhalten, und wir leben unser Leben einfach ein wenig anders.

Dabei lernen sowohl Kinder in den Schulen als auch Erwachsene am besten von ihren Peers, also durch Abschauen bei Mitschülern und Kollegen. Bei Learning on the Job, definiert als "learning from peers", lernen Menschen dann, wenn es relevant für sie ist – meist genau in dem Moment, in dem sie selbst vor einem ähnlichen Problem stehen. So trainieren sich Mitarbeiter neue Fähig- und Fertigkeiten an.

Fest verankert

Oft ist es doch so: Wir büffeln tagelang auf eine Prüfung hin, legen dann eine solide Leistung vor, und danach? Alles vergessen – oder es ist zumindest nur noch ein Bruchteil des Gelernten abrufbar. Das Gegenteil passiert bei Self-directed Learning: Das selbst und freiwillig angeeignete Wissen, gesteuert von den eigenen Interessen, ist fest verankert und unterstützt konkret im Arbeitsalltag.

Und mal ehrlich: Welcher Mitarbeiter ist wertvoller für ein Unternehmen – der, der sich auf einem Gebiet zum echten Spezialisten entwickelt, oder derjenige, der alles nur ein bisschen kann?

Obwohl Self-directed-Learning im angelsächsischen Raum schon auf dem Vormarsch ist, stehen hierzulande viele Unternehmen noch ganz am Anfang – so wie die Schulen auch. Gerade in Erziehungseinrichtungen, wo Gelder meist knapp sind, könnte Self-directed Learning den Ausweg aus dem Dilemma bieten: Nach neuesten Erkenntnissen werden so das Fünffache der ursprünglichen Lernleistung und signifikante Produktivitätserhöhungen ohne zusätzliche finanzielle Aufwände erreicht.Mehr?

Einfach anders!

Statt also neue Schulen, Lehrer und geeignete Lehrmittel zu fordern, müssten wir lediglich die Art des Lehrens und Lernens modifizieren. Wie das in Schulen und Hochschulen geht, zeigen erste Initiativen in Österreich und Deutschland. Diese auf einen schülerzentrierten Unterricht ausgerichteten Projekte bringen bei den Kindern und jungen Erwachsenen nachweislich eine höhere Lernleistung und ein höheres Engagement hervor.

In einer sich rapide ändernden Welt ist Self-directed Learning der Schlüssel, um den schnelllebigen Anforderungen gerecht zu werden. Niemand weiß, wie wir in zehn Jahren arbeiten werden.Behandeln Unternehmen ihre Beschäftigten jedoch als eigenständig denkende Individuen, anstatt ihnen jeden (Lern-)Schritt vorzukauen, bestünde die Chance, sich in der Zukunft "ganz von selbst" den Gegebenheiten des Marktes anzupassen. Meine These: Je früher sie das tun, desto höher wird ihr Wettbewerbsvorteil gegenüber Firmen, die (Aus-)Bildung weiterhin zentral steuern – und dabei viel Geld verschwenden. Umgekehrt wird der Markt diejenigen zurücklassen, die glauben, kontinuierliches Lernen sei eine Option statt eine Notwendigkeit. (Boris Gloger, 27.5.2019)