Der Tag begann so wie jeder andere: Sándor B. saß mit Bekannten auf dem Urban-Loritz-Platz in der Nähe des Wiener Westbahnhofs. Alle seine Wertsachen trug er in einer Bauchtasche: Handy, E-Card, Reisepass. Ein Mann kam auf ihn zu und fragte nach dem Weg. Kurz danach sah er ihn in der Straßenbahn wegfahren – mit seiner Bauchtasche samt Ausweisen.

"An dem Tag habe ich mir gedacht: Genug!", sagt der 53-Jährige. Er beschloss, sein Leben zu ändern. Zehn Jahre hat Sándor auf der Straße verbracht. Die meiste Zeit schlief er auch dort, nur im Winter teilte er sich manchmal mit Bekannten ein Zimmer in einem der Notquartiere. Getrunken hat er jeden Tag zehn bis 15 Bier im Durchschnitt.

"Alkohol ist ein Problem", sagt Sándor. "Aber noch mehr Probleme hast du, wenn du so richtig versandelt bist."
Foto: Robert Newald

Mittlerweile sind zweieinhalb Jahre vergangen. Sándor sitzt im begrünten Innenhof eines Hauses in Wien-Wieden. Seit einem Jahr hat er keinen Alkohol mehr getrunken. "Wenn du saufst, sind alle deine Freunde", sagt er und nippt an seinem Kaffee. "Da hast du nie ein Problem mit Bekanntschaften." Positiv meint er das nicht: Ein einziger enger Freund ist ihm aus der Zeit auf der Straße geblieben.

1991 kam Sándor nach Österreich. Geboren wurde er im ehemaligen Jugoslawien, familiäre Wurzeln liegen in Ungarn. Hinter sich gelassen hat er nicht nur den Krieg, sondern auch seine Familie: Der Vater war Alkoholiker und medikamentenabhängig. "Die Schule war deshalb immer nebensächlich", sagt Sándor. "Meine Kindheit war nicht einfach. Aber man lebt weiter." Familie hat er keine mehr. Als Jugendlicher begann er eine Ausbildung als Koch, die er aber nicht abgeschlossen hat.

Trotzdem hat er auch in Österreich in dem Beruf gearbeitet: "Forelle, Schweinsmedaillons, Gulasch, Spaghetti", zählt er auf. "Ich habe alles gemacht." Die Arbeit war hart, die Umstände auch: Angemeldet war er fast nie. Dann ging ein Restaurant in Konkurs, er verlor seine Arbeit, dann die Wohnung.

Sándor lebt seit 28 Jahren in Österreich, zehn Jahre davon auf der Straße.
Foto: Robert Newald

Im Sommer schlief er mit Schlafsack im Park. Wenn es kalt war, in einer Notschlafstelle. Durch Gelegenheitsarbeiten hatte er ungefähr 200 Euro im Monat zur Verfügung, erzählt er. Dass er keine Sozialleistungen bezog, scheiterte zum Teil daran, dass er keinen Anspruch hatte – er war bei seinen Arbeitgebern zumeist nicht offiziell angemeldet –, und zum Teil an behördlichen Hürden und Unwissen.

Heute hat Sándor wieder ein Dach über dem Kopf, auch wenn es nur eine Übergangswohnung ist, und einen Job: 20 Stunden pro Woche arbeitet er beim Sozialverein "Mut" als Koch – oder als "Mädchen für alles", sagt Sándor und lacht. Es ist jene Organisation, die ihm damals wieder auf die Beine geholfen hat, mit ihm den Weg zum AMS angetreten ist und wieder Papiere besorgt hat. Seine Anstellung wird nun für sechs Monate offiziell gefördert. Auch danach hat er eine Perspektive dort.

"Menschen sind ein Produkt ihrer Umwelt", sagt Laura Lobensommer vom Verein "Mut". Jeder brauche ein Umfeld, dem man nicht egal sei.
Foto: Robert Newald

Die große Herausforderung sei nun, eine dauerhafte Wohnung für Sándor zu finden, berichtet Laura Lobensommer vom Verein Mut: "Jeder, der in Wien schon einmal Wohnung gesucht hat, weiß, wie schwierig das ist", sagt sie. Auf eine Gemeindewohnung habe er aufgrund der fehlenden Wohnsitzmeldung der letzten Jahre noch keinen Anspruch.

Wichtig wäre, dass es in Wien mehr Schlafplätze gibt, heißt es seitens des Vereins Mut: Denn Leute fänden besser in das Berufsleben zurück, wenn sie eine Wohnung hätten – und nicht umgekehrt. "Oft braucht man in einer Notlage einfach Unterstützung dabei, sein Leben zu organisieren", sagt Lobensommer. "Und das Gefühl, gebraucht zu werden."

Wenn Sándor hustet, merkt man seiner Stimme die tausenden Zigaretten an, die er geraucht hat. Aber Nikotin ist das einzige Genussmittel, dem der Koch noch nachgibt. "'Komm, hier, trink', haben meine Kumpels immer gesagt", erzählt er. Sándor war hart zu sich selbst. "Was ich geschafft habe, schmeiße ich sicher nicht wegen zwei Bier über den Haufen." (Vanessa Gaigg, 22.6.2019)