Zwei Tage nach dem Brand von Notre-Dame in Paris spendeten Milliardäre und Kleinspender fast eine Milliarde Euro. Nach mehr als neun Jahren ist eine andere Notre-Dame quasi noch immer eine Ruine. In der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince brachte das schwere Erdbeben am 12. Jänner 2010 – mit mehr als 100.000 Toten – die Kathedrale Notre-Dame de L' Assomption zum Einsturz. Der Erzbischof gab sich optimistisch. Er hoffte, dass er die 25 bis 35 Millionen Euro für den Wiederaufbau innerhalb von 20 Jahren beisammen habe.

Haiti grenzt im Osten an die Dominikanische Republik.
Grafik: Standard

Dass das Gotteshaus in dem karibischen Staat dem Vergleich mit der Bedeutung der Kathedrale in der französischen Hauptstadt nicht standhalten kann, liegt auf der Hand. Doch ist die weiterhin zertrümmerte Kathedrale ein Sinnbild für die vernachlässigten Krisen im Land.

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Notre-Dame wurde durch das Beben im Jahr 2010 zerstört und hat noch immer kein Dach erhalten.
Foto: AP Photo/Ricardo Arduengo

Milliarden an Frankreich

Anfang des 19. Jahrhunderts befand sich der Inselstaat im Aufschwung. Im Jahr 1804 revoltierten die Sklaven gegen die französischen Besatzer und befreiten sich von dem Diktat aus Paris. Haiti wurde zum ersten unabhängigen Karibikstaat und zur weltweit ersten Republik, die von Schwarzen geführt wurde.

Frankreich gab die ehemalige Kolonie nicht kampflos auf und blockierte mit seiner Marine die Häfen. Die Besatzer erpressten die haitianische Regierung, Kompensationszahlungen an Sklavenhalter zu zahlen, die durch die Unabhängigkeit ihre Leibeigenen verloren hatten. Erst 1947 konnte Haiti diese Schuld tilgen, und noch immer sind die Zahlungen Thema zwischen den ehemaligen Besatzern und der Ex-Kolonie. Erst 2013 hat der damalige französische Präsident François Hollande eine Rückzahlung der umgerechnet 21 Milliarden Euro abgelehnt. Sein lapidarer Kommentar: "Was war, das war."

Mehr als die Hälfte der Haitianer hat keinen Zugang zum Gesundheitssystem.
Foto: CHANDAN KHANNA / AFP

Kein Zugang zum Gesundheitssystem

Was ist, ist unter anderem ein Gesundheitssystem, das an allen Ecken und Enden bröckelt und durch Hilfsorganisationen gestützt werden muss. Die Hälfte der Bewohner Haitis hat keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Für die andere Hälfte sind Behandlungen zu teuer. Laut Daten der Weltbank leben fast 60 Prozent aller Haitianer unter der nationalen Armutsgrenze von umgerechnet 2,16 Euro am Tag. 24 Prozent davon müssen mit weniger als 1,10 Euro auskommen.

"Die fragile Sicherheitslage in manchen Nachbarschaften hält die Menschen darüber hinaus davon ab, rechtzeitig medizinische Hilfe zu erhalten", sagt Michelle Chouinard dem STANDARD. Sie ist die Einsatzleiterin von Ärzte ohne Grenzen (MSF) im Land. Die Hilfsorganisation engagiert sich bereits seit 28 Jahren vor Ort. Sie betreut Projekte für Mütter, Überlebende sexueller Gewalt und Verbrennungsopfer. Mit 359 toten Frauen pro 100.000 Gebärenden hat Haiti die höchste Müttersterblichkeit der westlichen Hemisphäre. In Österreich liegt dieser Wert bei vier Frauen.

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Fast jede dritte Frau in Haiti hat einen sexuellen Angriff überlebt.
Foto: REUTERS/Andres Martinez Casares

Sexuelle Gewalt als medizinischer Notfall

Offizielle Statistiken zum Thema sexuelle Gewalt gibt es nicht. Experten schätzen, dass jede zehnte Frau in Haiti einen sexuellen Angriff überlebt hat, fast jede dritte Frau wurde Opfer körperlicher Gewalt. Eine Ärztin des MSF-Projekts spricht in einer Stellungnahme von einer "hohen Rate an Inzest in allen Gesellschaftsschichten". Vor allem Mädchen, die von ihren Vätern missbraucht wurden, kämen häufig in die Klinik.

MSF bezeichnet das als "medizinischen Notfall", sagt Chouinard. Überlebende müssten binnen drei Tagen nach einem Angriff oder einer Vergewaltigung von einem Arzt untersucht werden, damit Krankheiten und Verletzungen diagnostiziert werden können. Speziell geschultes medizinisches Personal ist im Land Mangelware. Ebenso Krankenhäuser, die rund um die Uhr geöffnet haben. "In unsere Einrichtung kommt die Hälfte aller Patienten zwischen 18 und sechs Uhr morgens", sagt die MSF-Einsatzleiterin.

Seit 2017 protestieren Regierungsgegner gegen Korruption und Gewalt auf der Straße.
Foto: CHANDAN KHANNA / AFP

Straßenproteste

Eine Klinik der Hilfsorganisation sollte eigentlich wieder geschlossen sein: Sie war knapp ein Jahr nach dem Beben 2010 eröffnet worden und auf fünf Jahre Betrieb ausgelegt. Dann sollte die Regierung übernehmen. Soweit der Plan. Doch die Kapazitäten der Behörden in Port-au-Prince reichten nicht aus. MSF leitet das Krankenhaus noch immer.

Der Unmut über die Arbeit der Regierung entlädt sich immer wieder. Vor allem seit 2017 tragen die Haitianer ihre Unzufriedenheit auf die Straße. Damals enthüllte eine Untersuchung des Senats, dass dutzende Regierungsbeamte und Konzernchefs rund 3,6 Milliarden Euro aus Petrocaribe unterschlagen haben sollen. Dabei handelt es sich um das Hilfsprogramm aus Venezuela, wodurch Haiti nur 60 Prozent des Preises von Öl bezahlen muss und den Rest der Kosten mit geringem Zinssatz 25 Jahre lang zurückzahlt. Das Geld aus der Initiative soll in Infrastruktur, Gesundheit, Bildung und Sozialprogramme investiert werden. Im Februar gipfelten die Antiregierungsproteste vorerst in der "Operation Lockdown". Die Protestierenden legten zehn Tage lang das öffentliche Leben des Inselstaats lahm.

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Dürreperioden und Misswirtschaft lassen Millionen Haitianer hungern.
Foto: AP Photo/Dieu Nalio Chery

Hunger und Krankheiten

Zur Unzufriedenheit trägt auch die hohe Inflation im Land bei, die die Treibstoff- und Nahrungsmittelpreise steigen lässt. "Im Vorjahr und heuer war Haiti von Episoden von Dürren betroffen", erzählt Alix Nijimbere, stellvertretender Leiter des UN-Amts für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA). Das UN-Welternährungsprogramm schätzt, dass zwischen März und Juni dieses Jahres 2,6 Millionen der elf Millionen Haitianer von akuter Nahrungsmittelunsicherheit betroffen sein werden. Davon stehen rund 570.000 vor einem Nahrungsmittelnotstand.

Krankheitsausbrüche wie Malaria, Diphtherie und Cholera verdüstern die Lage der Menschen weiter. Wobei Nijimbere von Erfolgen im Kampf gegen Cholera in den vergangenen zwei Jahren berichtet – jene Krankheit, die durch die UN-Blauhelme bei ihrem Einsatz im Jahr 2010 verbreitet wurde und durch die tausende Haitianer starben. 2016 entschuldigte sich der damalige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon für die 800.000 Infektionen.

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Ein Mitglied einer bewaffneten Gang in dem Hauptstadtviertel "La Saline".
Foto: AP Photo/Dieu Nalio Chery

Massaker in der Hauptstadt

Der Einsatz der Vereinten Nationen – der seit 15 Jahren andauert – soll im Oktober endgültig enden. Noch befinden sich rund 1300 UN-Mitarbeiter im Land, um Polizei und Justiz zu stärken. Dass ihr Abzug bereits gerechtfertigt ist, bezweifeln Beobachter. Erst vor kurzem veröffentlichte der Miami Herald einen internen Polizeibericht, der ein Massaker im November des vergangenen Jahres untersucht hatte.

An vier Tagen wurden in dem für seine Gewalt bekannten Hauptstadtviertel La Saline Männer, Frauen und Kleinkinder erschossen und ihre Leichen an Hunde und Schweine verfüttert. Bilder des Massakers verbreiteten sich in den sozialen Netzwerken. Frauen wurden vergewaltigt und angezündet, Männer mit Messern verstümmelt. Das Motiv für die Gewalteskalation ist noch unklar.

Der Polizeibericht empfiehlt die Verhaftung von mehr als 70 Verdächtigen. Unter ihnen auch zwei ehemalige Polizeibeamte und zwei Regierungsmitglieder. Für Pierre Esperance von der Menschenrechtsorganisation National Human Rights Defense Network ist klar, dass die Verantwortlichen ein "Klima der Unsicherheit schaffen wollten, um Antiregierungsdemonstrationen zu verhindern". Die Leute sollten dadurch abgeschreckt werden, sich an den Protesten gegen die Machtinhaber zu beteiligen. Doch die Demonstranten fordern noch immer den Rücktritt des Präsidenten Jovenel Moises und seiner Regierung. (Bianca Blei, 24.5.2019)