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Zusammenkehren vor Theresa Mays Amtssitz.

Foto: AP Photo/Matt Dunham

Kurz nach elf Uhr kommt die Bestätigung: Mit Theresa Mays Amtszeit als Premierministerin Ihrer britannischen Majestät geht es zu Ende. Keine donnernde Rücktrittsrede, kein massenhafter Auszug aus dem Kabinett – ein nicht erwähntes Ereignis leitet die Götterdämmerung ein.

Wie stets am Donnerstag gibt die Regierung auch diesmal das Gesetzgebungsprogramm für die nächste Sitzungswoche bekannt. Da das Unterhaus kommende Woche in den vorgezogenen Pfingstferien weilt, geht es um die darauffolgende, die erste Juni-Woche – genau jenen Zeitraum, für den May erst am Dienstagnachmittag die erneute Vorlage des EU-Austrittsvertrages angekündigt hat.

Kein Wort über den Brexit

Die kurze Ankündigung des Regierungsmitglieds Mark Spencer enthält Debatten über unsichtbare Behinderungen, Tierschutz und Finanzhaie – erwähnt aber den Brexit mit keinem Wort. Damit ist klar: Die wohl allerletzte Chance Mays, das zentrale Vorhaben ihrer Amtszeit in die Tat umzusetzen, ist verstrichen. Zu stark ist der Widerstand im konservativen Kabinett gegen jedes Zugeständnis an die Opposition, zu gering der Wille bei Labour, geschweige denn bei den kleineren Parteien, der taumelnden Regierung die Hand zu reichen.

May selbst verlässt am frühen Nachmittag ihren Amtssitz in der Downing Street, um den Parteiaktivisten in ihrem Wahlkreis Maidenhead westlich von London für deren Einsatz bei der Europawahl zu danken. Dass die Tories den Umfragen zufolge diesmal bei sieben bis neun Prozent und damit auf Platz fünf landen könnten, hat die Panik in der Unterhausfraktion verstärkt. Früh am Freitag muss sich die konservative Parteichefin deshalb mit Graham Brady zusammensetzen, dem Interessenvertreter der Tory-Hinterbänkler. Vieles deutet darauf hin, dass die 62-Jährige dann den Zeitplan für ihren Rücktritt vom Partei- und Staatsamt auch öffentlich macht.

Die meisten Boulevardzeitungen haben an diesem Morgen ein Foto der Premierministerin auf der Titelseite, das sofort die Assoziation mit dem Abschied der ersten Frau im wichtigsten Regierungsamt weckt: Margaret Thatcher verließ im November 1990 die Downing Street weinend. Hat nun auch May Tränen in den Augen? Selbst die nüchterne Financial Times schreibt, neben einem gänzlich tränenfreien Foto, von Mays "versickernder Autorität".

Freilich ist die sozial unbeholfene, von Ehr- und Pflichtgefühl durchdrungene Politikerin schon häufig totgesagt worden. Hat sie sich wirklich im Bunker verschanzt? Noch funktionieren die Mechanismen der Macht: Die am Mittwochabend zurückgetretene Ministerin Andrea Leadsom, als "Führerin des Unterhauses" für das Gesetzgebungsprogramm der Regierung zuständig, ersetzt May tags darauf durch den Finanz-Staatssekretär Melvyn Stride.

Brexiteer Leadsom wollte das neue Gesetzespaket nicht mittragen, weil darin von der Möglichkeit einer Zollunion und eines zweiten Referendums die Rede sein soll. "Mit großem Bedauern" und schweren Herzens müsse sie deshalb ihre Demission einreichen, schreibt die einstige Rivalin um den Parteivorsitz.

Machtpoker und Harakiri

Leadsoms Rückzug soll Mays Auszug bewirken. Doch die angekündigten Rücktritte anderer Brexit-Streiter wie Verkehrsminister Chris Grayling oder Außenhandelsressortchef Liam Fox bleiben aus. Offenbar will das Kabinett nicht für Mays Sturz verantwortlich sein, ebenso wenig wie das Hinterbänklerkomitee "1922".

Ob sich das Bild ändert, wenn am Sonntagabend die Ergebnisse der Europawahl kommen? Eine Gruppe von Staatssekretären plant angeblich für Montag kollektives politisches Harakiri – kein sehr glaubwürdiger Plan angesichts der Tatsache, dass am Montag in Großbritannien Feiertag ist. Zudem stehen die Herren allesamt im Verdacht, einem bestimmten Nachfolgekandidaten den Weg ebnen zu wollen.

Außenminister Jeremy Hunt und Innenminister Sajid Javid, ebenfalls Bewerber um Mays Nachfolge, hatte die Chefin am Mittwoch Einzelgespräche verweigert – offenbar um das Schicksal ihrer Amtsvorgängerin Thatcher zu vermeiden, der damals ein Minister nach dem anderen den Rücktritt nahegelegt hatte.

Hunt beteuerte am Donnerstag, Anfang Juni werde May noch im Amt sein: Am 3. Juni kommt US-Präsident Donald Trump auf Staatsbesuch, da sähe es nicht geschickt aus, wenn die Premierministerin nur noch kommissarisch im Amt weilt. Womöglich erhält May also nochmals Aufschub. Nur der Brexit, der bleibt ungelöst. (Sebastian Borger aus London, 23.5.2019)