Sonnenaufgang im Seewinkel, Burgenland: Bis 2020 werden 1,5 Milliarden Euro von der EU ins östlichste Bundesland Österreichs geflossen sein.

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Balzen im Sonnenuntergang: Das Green-Belt-Projekt hat den einstigen Todeskorridor zu einem verbindenden Naturstreifen gemacht.

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Als Karl Stix erstmals zum Landeshauptmann des Burgenlandes gewählt wurde, 1991 ist das gewesen, waren die Wunder, die sich ereignet haben vor unser aller Augen, erst zwei Jahre her. Allen, selbst den Kleinmütigen, ging damals immer noch das Herz über vor lauter Zukunftsfreude. Manchen schien sogar, als könnte nun, gegen Ende, das schreckliche 20. Jahrhundert irgendwie rückgängig gemacht werden.

Und wenn schon nicht rückgängig, so doch wieder halbwegs gut. Nicht nur im Burgenland. Aber vor allem im Burgenland, das in diesem Jahr 1991 gerade seinen erst 70-jährigen Bestand feierte als ein fast absurd schmaler Streifen Grenzland zu Ungarn, dessen Teil es zuvor ja gewesen war.

In diesen 70 Jahren, in denen dieses Burgenland sich – meist redlich, oft verzweifelt, nicht selten vergeblich – bemüht hat, so österreichisch zu werden wie Österreich selbst, geschah reichlich Verwirrendes und Verworrenes auch. Nicht und nicht wollte es zum Beispiel gelingen, sich herauszustrudeln aus dem Schatten der Eisernen Grenze, wo man sich freilich auch eingerichtet hat in der Bequemlichkeit des Jammers. Das Burgenland: nicht selten ein Achselzucken über und gegenüber sich selbst.

Nun aber schien alles auf einmal sehr schnell zu gehen. Das Rad der Geschichte werde, vorwärts rollend, zurückgedreht werden. Kaum woanders in Österreich war das so intensiv zu verspüren, dieses schöne, große Wieder einer kontinentalen Normalisierung.

Daran lag es wohl auch, dass nirgends anders das Drängen in die Europäische Staatengemeinschaft kräftiger war als hier. Drei Viertel aller Burgenländer und Burgenländerinnen – 66,6 Prozent waren es in ganz Österreich – stimmten bei der Volksabstimmung im Jahre 1994, ein Vierteljahrhundert ist das nun her, für den EU-Beitritt.

Zurück in die Zukunft

Es schien die einmalige Chance zu sein, zurück in die Zukunft zu gehen; in eine neue, alte, ineinander verwobene Region. Selbst der so besonnene Karl Stix, Finanzlandesrat seit 1982, war infiziert von retrospektiven Visionen: "Wenn wir 80 Jahre Burgenland bei Österreich feiern, müsste es ein Land sein, das fest in eine neue, starke, autarke mitteleuropäische Region eingefügt ist, mit Preßburg, Gyor, Sopron, Szombathely, St. Gotthard.

Das Burgenland mit seiner westlichen Tradition soll dann ein aktiver, gestaltender Faktor für diese Entwicklung gewesen sein. Meine Vision ist eine Region, in der die Grenze nur mehr staatsrechtliche Funktion hat, in der man von Gyor nach Eisenstadt genauso fährt wie von Oberwart nach Pinkafeld."

Es war, wir Älteren erinnern uns noch plastisch, eine Zeit voller Mondfenster: 1989 Fall des Eisernen Vorhangs; 1995 EU-Beitritt Österreichs; 2004 EU-Osterweiterung; 2007 Schengen-Erweiterung; 2011 Ende der Übergangsbestimmungen für Arbeitnehmer. Um zehn Jahre hat er sich verschätzt, der 2003 verstorbene Karl Stix, dem die Fisimatenten mit der Bank Burgenland im Jahr 2000 die zweite Amtszeit vorzeitig beendet haben. Nun aber, 2019, gibt es die damals noch visionäre alte, westungarische Region.

Die städtischen Gebiete rund um Preßburg (Bratislava, Pozsony), Wieselburg (Mosonmagyaróvár), Ödenburg (Sopron) und Eisenburg (Vasvár) und ihr österreichisches Hinterland haben – da mehr, dort weniger – wieder zueinander gefunden. Nicht friktionsfrei. Auf eine sehr alltägliche, den kleinlichen Streit mitmeinende Weise. Nicht immer passt ja die gute Miene zum bösen Spiel. Und umgekehrt natürlich auch.

Wieder zueinandergefunden

Ums Geld ging es, no na, damals auch. Das Burgenland hatte ja die einmalige Chance, Profiteur des europäischen Fördersystems – eine Art Zusatzfinanzausgleich für Armutschkerln – zu werden. Brigitte Ederer, als rote EU-Staatssekretärin im Verhandlungsteam zum Beitritt, erinnert sich an die traditionsreiche Kunst des Burgenländers, sich noch ärmer zu machen, als er ohnehin schon ist.

Den britischen Regionalkommissar Bruce Millan führte Stix ins Mittelburgenland, erzählte ihm gar Schreckliches aus der Bedürftigkeitsgeschichte des Landstrichs, lud ihn zum Essen in eine Unterkunft der seit 1990 patrouillierenden Grenzsoldaten, man aß "von abgeschlagenen Tellern", ließ eine Tamburizzagruppe spielen und tanzen.

"Ständig sind wir durch den Gatsch gegangen", erzählte Ederer der Margaretha Kopeinig für deren Buch Der dreizehnte Stern. Wie Österreich in die EU kam. Auf der Rückfahrt nach Wien "sagte mir der Kommissar: 'This is really a poor country'".

Na ja: Bruce Millan, ein schottischer Labourpolitiker, war freundlich genug, so zu tun, als nehme er die Stix'sche Vorführung für bare Münze. Millan war Besatzsoldat in Kärnten und als solcher, schreibt Albrecht Rothacher, ein EU-Diplomat, "ohne Zweifel mit der lokalen Geschichte und den Fähigkeiten der Burgenländer im Verhandlungsdrama vertraut".

Das Burgenland – dessen regionales BIP dank seines vernachlässigten Südens ja wirklich unterhalb der entscheidenden 75 Prozent vom EU-Schnitt lag – wurde nun also gewissermaßen mit Geld überschüttet.

Zwei Ziel-eins-Perioden, eine Phasing-out-Phase, dann ein sogenannter Übergangsregion-Status: Bis 2020 werden 1,5 Milliarden Euro von der EU ins Burgenland geflossen sein. Land und Bund doppeln auf. An die sechs Milliarden werden investiert worden sein bis nächstes Jahr. Man kann die Geschichte auch so – über die Geldbeträge – erzählen: Und im Normalfall passiert dies, zu Recht, ja auch. Aber das wäre nur die halbe Geschichte.

Ein Haus, zwei Autos, Kinder

Als Karl Stix erstmals zum Landeshauptmann gewählt wurde, 1991 also, kam der damals 22-jährige Zsolt Gergácz gerade nach Frauenkirchen. Deutsch sprach er kaum, und jenes Deutsch, das er verstehen konnte, hatte keineswegs den Zungenschlag, der für gewöhnlich im Seewinkel zu hören ist.

Aber Zsolt Gergácz hatte jenen starken, biederen, endlich möglich gewordenen Traum, den eine Generation zuvor auch so viele Burgenländer geträumt haben: ein Haus; ein Auto oder, weil halt notwendig, zwei; ein bisserl was von der Welt sehen; Kinder, denen es besser gehen soll. Über noch volksrepublikanisch holprige Straßen pendelte er von Sopron nach Pamhagen und weiter auf längst auch noch nicht Ziel-eins-geglätteten Straßen bis Frauenkirchen. Die Frau ging putzen, auch sie im Burgenland. Man legte und – wichtig fürs auch materielle Glücken des Glücks – blieb zusammen.

Eins der Kinder ist schon herausgewachsen. Und träumt einen anderen Traum. Einen moderneren, europäischeren. Work-Life-Balance heißt das auf Deutsch. Und auf Ungarisch auch. So sagt es jedenfalls der Zsolt, der mittlerweile, längst schon anderswo tätig, heanzt wie ein Hiesiger. Poncichter nennen ihn manche Gäste.

So sagte man einst zu den wohlhabenden Ödenburger Bauern nach dem hier gerne und häufig angebauten Gemüse. In Frauenkirchen war er noch der kleine Ungar, der die Kartendippler so schwer bis gar nicht verstanden hat. Obwohl sie – das ließen sie ihn gemeiner-, aber hilfreicherweise lange nicht wissen – eh ungarisch gesprochen hätten wie damals noch viele Alte im Seewinkel.

Pragmatiker

Hin und wieder hat der Bürgermeister seines sonntägigen Amtes gewaltet: vorbeigeschaut beim Wirten. Der Bürgermeister hieß, als Zsolt Gergácz noch Kellner war in Frauenkirchen, Hans Nießl. Er schrieb sich später – da war der Zsolt schon woanders – mit Doppel-s. Was Karl Stix, von dem er 2000 hat übernehmen müssen, im visionären Infekt beschworen hatte, musste Niessl nun alltagstauglich machen; darum schien er hausbackener, ruppiger vielleicht. Das trug ihm so manche Kritik ein.

Auch von mir, der ich leider nicht ganz immun bin gegen visionäre Infekte und Sonntagsreden, die so wunderbar klingen, dass einem ganz schummrig werden kann manches Mal. Immer dann gehe ich zum Zsolt, und wir reden über den Hans Niessl und all das andere. Das hilft. Nicht immer, aber oft.

Hans Niessl, 18 Jahre lang Landeshauptmann, war stets einer für unter der Woche. Ein Pragmatiker, der sich nicht gescheut hat, den Nachbarn auch auszurichten, dass sie stören zuweilen. Am Arbeitsmarkt zum Beispiel, wenn sie den Hiesigen die Arbeit wegnehmen würden, weil sie Lohndumping betrieben oder als Unternehmen zu billig hereinarbeiteten.

Die offene Grenze sei, sagte er mir nicht nur einmal, "auf der People-to-people-Ebene" zu leben, nicht blauäugig im Großen und Ganzen. Und schon gar nicht auf dem Arbeitsmarkt, da gelte es, auf die Eigenen zu schauen. Das sage die Arbeiterkammer. Das sage die Gewerkschaft. So sei die Sozialdemokratie.

Im Winter 2016 wurde ein Plan vorgelegt, in Frauenkirchen ein riesiges Glashaus für Paradeiser zu errichten. Eine Bürgerinitiative, angeführt vom Edelwinzer Josef Umathum, trat vehement dagegen auf. Hans Niessl warf sich für den Glaspalastplaner ins Zeug. Die Umathum'schen warfen ihm unter anderem vor, im Glashaus entstünden ohnehin nur Arbeitsplätze für Ungarn. Niessl erwiderte, dass genau dies doch der gesamten Region nützen würde. Ginge es nämlich den Westungarn besser, würden die auch mehr Geld im Burgenland lassen.

Als Niessl das mit der Argumentation der Wirtschaftskammer – tatsächlich liegt ja das burgenländische Einzelhandelsbilanzplus gegenüber Ungarn seit Jahren bei etwa 100 Millionen Euro – ins Treffen führte im überfüllten Saal des Gasthofes zum alten Brauhaus, lehnte ich mich zurück und traute mit frohem Herzen meinen Ohren nicht.

Ich bin zum Zsolt gegangen und habe ihm davon erzählt. "Wenn du nicht spurst", stichelte ich, "kommst du ins Glashaus." Aus dem Frauenkirchener Glaspalast ist dann aber eh nichts geworden. Zum Glück. Zum Unglück. Wer weiß?

Verwordagelt und verworren

1991, als Karl Stix erstmals zum Landeshauptmann des Burgenlandes gewählt wurde, habe ich mich endgültig entschlossen, ein Burgenländer zu werden. In das Verwordagelte des Landstrichs und die Verworrenheit seiner Geschichte hatte ich – in der Persönlichkeitsstruktur dem Land da sehr ähnlich – mich sowieso seit längerem schon verliebt gehabt.

Und wahrscheinlich war ich der Einzige, der still dem Herrgott dankte für die Ödenburger Volksabstimmung im Dezember 1921. Wäre die nämlich für den Anschluss an Österreich ausgegangen, läge das Dorf, in das es mich verschlagen hat, im Speckgürtel der Hauptstadt. Unleistbar für einen wie mich.

Aus dem Dorf, in dem ich nun daheim bin, stammt eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der westungarischen Geschichte. Im Burgenland ist er weitgehend vergessen. In meinem Dorf komischerweise zur Gänze. In Sopron allerdings haben sie ihm sogar ein Denkmal gesetzt. Sowohl real vor dem Rathaus als auch im Gedächtnis der Stadt.

Der Dr. Michael Thurner war jener Volksabstimmungsbürgermeister, der so erfolgreich für den Verbleib Ödenburgs bei Ungarn geworben hat. Sopron trägt seither den Adelstitel "civitas fidelissima", allertreueste Stadt.

Erzählt hat mir das zum ersten Mal ein Nachfolger Thurners, der 2015 verstorbene Dr. Szabolcs Gimesi, ein feiner, hochgebildeter Jurist, von 1994 an konservativer Namenslistenbürgermeister. Und einer, der unermüdlich nähte an dem Riss, den das 20. Jahrhundert quer durch dieses Land gezogen hat.

Was 1921 geschehen ist, die Zersplitterung der Region, beschrieb er mir einmal so: "Die Burgenländer haben geglaubt, sie haben Sopron verloren. Die Soproner haben geglaubt, sie haben das Burgenland verloren." Was für eine Gelegenheit also, die sich mit der Europäisierung der Splitter auf einmal auftat!

Green-Belt-Projekt

Als es, noch vor seiner Kür zum Bürgermeister, darum ging, den Hanság und den südlichen Seewinkel zu einem grenzüberschreitenden Nationalpark zusammenzufügen, war er mit dabei.

Der Illmitzer Alois Lang, der sich auf österreichischer Seite diesbezüglich mühte, exportierte das hier erworbene Know-how später als Mitarbeiter in das Green-Belt-Projekt, das den langen, wüsten Todeskorridor quer durch ganz Europa zu einem lebendigen, verbindenden Naturstreifen machen will. Was für ein schönes, tröstliches Bild: dass selbst der ärgste politische Wahnwitz am Ende doch überwuchert wird. Natura vincit omnia.

Man hatte es eilig damals, am Beginn der 1990er-Jahre. Noch war ja keineswegs ausgemacht, welche Richtung die Angelegenheiten, die gerade vor sich gingen, nehmen werden. In Jugoslawien zum Beispiel haben sie in dem Jahr, in dem Karl Stix erstmals Landeshauptmann wurde, damit begonnen, einander und damit sich die Köpfe einzuschlagen. "Friede" – als deren Ermöglicher oder gar Garant die Europäische Gemeinschaft sich verstand und bis heute versteht – hatte damals noch einen anderen Unterton. Einen dringlicheren, unmittelbareren.

Im Zauber des Anfangs übersah man aber nicht selten die uralten Hemmschuhe. Karl Stix rief mit den Nachbarn die Euregio West/Nyugat Pannonia ins Leben. Das Burgenland und die drei Nachbarkomitate Gyor-Moson-Sopron, Vas und Zala zahlten gar je eine Million Schilling in ein gemeinsames Budget. Im Verteilungsstreit, so hoffte man, käme man einander, wenn schon nicht gleich wieder nahe, so doch näher.

Das Leben an der sich nun allmählich ausblendenden Grenze wollte man jedenfalls in die eigene Hand nehmen. Das scheiterte an Budapest, das im streng zentralistisch verfassten Ungarn über alle politischen Systeme hinweg stets das letzte Wort gehabt hat. Der schöne Sonntagstraum von den gewissermaßen menassierten oder menassierenden Regionen, aus denen Europa sich zusammensetzen möge, findet sich so im Handumdrehen im Trott des Wochentags wieder.

Man heiratet

Menschen wie Szabolcs Gimesi oder Alois Lang; wie Michael Leier, der kleine Kaufmann auf Horitschon, der im offenen Osten zum großen Konzernchef wurde; wie Franz Weninger, der Weinbauer im selben Ort, der die uralten Fäden nach Villány aufgenommen und weitergesponnen hat aus dem mittelburgenländischen Blaufränkischland; wie die vielen Bürgermeister da wie dort; wie Zsolt Gergácz und so viele andere – das waren und sind Verfestiger dessen, was damals noch gefährlich fluide erschienen ist.

Es ist schon was dran, an des Hans Niessls People-to-people-Ebene. Es dauerte nicht lang, dann ging es ja auf den alten Wegen auch wieder in die andere Richtung. Die Ungarn schicken ihre Kinder in burgenländische Kindergärten und Schulen und Fachhochschule. Man fing an, einander näher zu rücken. Man politisiert kenntnisreich über das je andere Land. Man heiratet.

Mittlerweile erscheint die Region, von der Stix einst geredet hat, so eng verwoben, dass sie sich auch nicht mehr so mir nix, dir nix zurückpfeifen ließe. Das hat nicht zuletzt der Grenzschock des Sommers und Herbstes 2015 gezeigt. Peniblere Kontrollen können belästigen. Sehr belästigen. Ernsthaft gefährden können sie die zusammengewucherte Region längst nicht mehr.

Zu sehr ist man schon ineinander verstrickt. Eine normale, europäische, grenzbefreite Region. Sie funktioniert nur halt immer noch verkehrt. Die Stadt pendelt aufs Land, nicht wie sonst überall das Land in die Stadt.

Sopron ist heute eine Stadt, über deren Größe die Ansichten stark auseinandergehen. Offiziell gibt es rund 65.000 Einwohner. Mehr als 100.000 seien es, erzählen die Soproner selbst. Und noch mehr im Weichbild.

Wochenpendler aus Ostungarn hätten sich eingerichtet in rasch errichteten Quartierbauten, um von hier ins Österreichische zu arbeiten. Tatsächlich tun das Tag für Tag zumindest 20.000 unselbstständig Arbeitende. Selbst deren Fahrplan ist weithin bekannt. Ab vier Uhr früh kommen die Putzfrauen, dann die Handwerker und am Schluss die Kellner und die Kellnerinnen.

Das Doppelte, das Dreifache, manchmal gar das Vierfache lässt sich, trotz zuletzt gestiegener Löhne, in Österreich verdienen. Dazu kommt die Rechtssicherheit durch Kollektivverträge und die funktionierende Gewerkschaft für den Fall des Falles. Im Fall des Falles gibt es gewerkschaftlichen Rat auch auf Ungarisch.

This land is my land

Damals, als die Eisenbahnzüge noch Speisewagen mit sich führten und nicht bloß Abspeisewagen, fuhr ich öfters nach Budapest. Besonders gern tat ich das mit dem "Zürichsee", der zwischen Zürich und Budapest verkehrte, und das über die Strecke Ebenfurt-Ödenburg-Raab, jene Strecke also, von der die Gyor-Sopron-Ebenfurti Vasút bis heute ihren Namen bezieht, jene Raaberbahn, die über all die hinter uns gelassenen Jahre der Eisernen Grenze ein institutionalisiertes Loch geschlagen haben.

Gewohnheitsmäßig bestellte ich, es war früher Vormittag, Hortobágyi palacsinta. Später ließ ich mich auf ein Soproni sör überreden. Und hin und wieder, weit nach Tatabánya, auf ein zweites. Die Kellner, die schon seit Zürich den Ruhm der ungarischen Gastfreundschaft durch Europa trugen, fingen dann an zusammenzuräumen.

Und mir ging die Stimme von Arlo Guthrie nicht aus dem Kopf. Die Hymne auf einen kontinentverbindenden Eisenbahnzug: "Good Morning America, how are you? Don't you know me? I'm your native son." Ich dachte mir – wahrscheinlich eh erst immer nach Tatabánya – Europa damals ein bisserl amerikanischer, musikalischer, herzerwärmender, Woody-Guthrie-artiger: "This land is your land, this land is my land."

Jahre danach, Hans Niessl war bereits mitten unter der Woche, fuhr das Kind, schon in einem Abspeisewagen, erstmals allein nach Budapest. Aufs Sziget-Festival. Und das mit jener Selbstverständlichkeit, mit der es vor Jahresfrist ins benachbarte Wiesen gepilgert war. Das Kind hatte andere Lieder im Kopf. Aber längst auch ein schon anderes Bild von Europa.

Kann sein, dass ich damals – ist auch schon wieder eine Weile her – zum ersten Mal still bei mir gedacht habe, dass es um meine schönen, rührseligen Sonntagsgefühle, um den Zauber des Anfangs in den Jahren 1989 ff., gar nicht mehr geht.

Sondern. (Wolfgang Weisgram, 25.5.2019)