Hat einen Politthriller gegen die "kollektive Amnesie" geschrieben: Veit Heinichen.

Foto: Guido Gluschitsch

Nach zehn Ausgaben der Proteo-Laurenti-Serie legt der Triestiner Krimiautor Veit Heinichen nun einen fast 500-seitigen "Thriller" vor. Paradoxerweise wird dabei das Geschehen von Triest in den kleinen Badeort Grado verlegt, der zum Zentrum übler Machenschaften zwischen Berlin, Bari und Bagdad wird.

Hier treffen sich unter anderem leitende Agenten des deutschen Bundesnachrichtendienstes, eine ostdeutsche Schwimmsportlerin, kroatische Spitzenbeamte und vormalige Kriegsverbrecher, ein römischer Sicherheitsbeamter, ein Aktien-Tycoon, der sich als Biofarmer auf eine Insel zurückgezogen hat, eine korrupte Senatorin der Forza Italia und ihr noch korrupterer, aber gleichfalls parlamentarisch gewählter Bruder.

Weitere nicht unwichtige Nebenfiguren sind ein Salzburger Aufdeckungsjournalist, ein taxifahrender Bodyguard mit Migrationshintergrund sowie der Sohn eines Dortmunder Bestattungsunternehmers. Die Vielfalt der Figuren deutet auf die Breite dieses Romans, der sich schnell als Politthriller entpuppt, in dem die internationalen Aspirationen einer Kärntner Pleitebank, das mediterrane Flüchtlingsdrama und -schleppertum, der Aufstieg der europäischen Rechten, die Kriege auf dem Balkan und im Nahen Osten sowie die Machenschaften der Geheimdienste und die Gegenmächte der investigativen Medien eine unentwirrbare Beziehung eingehen.

Verzweigte Handlung

Für eine so verzweigte Handlung sind die in den vielen Szenen angelegten mannigfachen Cliffhanger nicht bloß Instrumente zur Erhöhung der Spannung, sondern auch Erzählstrategien des Komplexen: Eine solche Geschichte kann einfach nicht linear erzählt werden. Im Zentrum des Romans steht Xenia Ylenia Zannier. Sie ist zwar bescheidene Commissario von Grado, hat sich aber ein großes mittelfristiges Lebensziel gesetzt: die Beendigung der kriminellen Politikkarriere der Senatorin Castelli de Poltieri.

Im Friauler Erdbeben von 1976 geboren (die aus den Trümmern gerettete Mutter starb nach dem Notkaiserschnitt), wuchs sie als Vollwaise bei der Familie ihrer Tante auf und verlor ihren Stiefbruder früh als Resultat einer politischen Provokation. Aus diesen Verlusten ergibt sich einerseits eine allen Ausgegrenzten zugewandte, andererseits aber auch eine pathologisch-klaustrophobe Persönlichkeit mit Angst vor geschlossenen Räumen und Beziehungen, die sie "umarmen, umschlingen" und dann "erwürgen". Xenia verkörpert damit die positive Variante des "Borderless" im Romantitel und repräsentiert das grenzenlose Europa gegen all jene, die sich abschotten oder neue Mauern errichten wollen, kann aber auch unbesonnen und heftig reagieren. Die neue räumliche Grenzenlosigkeit nutzen auch andere, teils schon deutlich vor der Schengen-Ära.

Übergreifende Zusammenhänge

Der Roman bietet eine schon lange notwendige Darstellung der Periode von der "Wende" bis in den Frühsommer 2015. Für Xenia liegt ein "Teil der Zukunft in der Vergangenheit"; notwendig ist eine Überwindung der "kollektiven Amnesie", um die "Schweinereien der Vergangenheit" zu einem "Teil des Bewusstseins" zu machen. Während die Romane der Laurenti-Serie meist auf spezifischen triestinischen Rechercheprojekten vom Organhandel bis zur organisierten Bettelei basieren, geht es hier um übergreifende Zusammenhänge.

So etwa wandern die in den Jugoslawienkriegen per Embargobruch gelieferten Waffen aus DDR-Beständen 20 Jahre später nach Syrien weiter. Eine in denselben Kriegen vergewaltigte Frau wird zu einer Schlüsselfigur in dieser Fortsetzung des millionenschweren Menschen- und Materialschmuggels in den arabischen Raum hinein.

Dabei kommen vielfältige, teils recherchierte, teils fiktional-spekulative Skandale zum Vorschein, vom Wunsch nach der deutschen Dominanz des Balkans bis hin zu den politischen Aspirationen dienlichen Aktivitäten der Klagenfurter "Middle European Credit Bank" mit ihren komplexen Verstrickungen mit einer Landesbank in Bayern.

Das Buch beginnt langsam, aber nur um Schwung zu holen für eine immer dynamischere Entwicklung auf verschiedensten Ebenen. Gleichzeitig lebt das Geschehen, wie bei Commissario Proteo Laurenti, der übrigens als Xenias Ausbildner auftritt, von der Verbundenheit mit der Triestiner Region. Aus dem fiktionalen Miteinander von Karstweinen, Doraden und Pizza mit Würstel einerseits und den großen Machtinteressen andererseits ergibt sich ein charakteristischer Veit Heinichen – wenn auch in anderem Maßstab.

Angst schüren und kassieren

Der geschilderte Frühling 2015 ist nicht zufällig die mediterrane Vorgeschichte zu dem noch nicht geschriebenen Roman über die Balkanroute, die nur wenige Monate später die Medien und öffentliche Diskussion dominieren sollte.

Situationen, in denen Flüchtlinge nicht als Menschen, sondern als Verbrecher behandelt werden, in denen eine rechte Politikerin nach dem Vorsitz der OSZE greift, in denen ein Druck aufgebaut wird, "groß genug", damit "sogar die Linken auf unsere Themen einschwenken", weisen auf die größere allgemeinere Strategie: "Angst schüren und damit kassieren – Geld und Wählerstimmen."

Thriller erzeugen Angst und Anspannung, dann aber Erleichterung und Spannungslösung. Die Romanlektüre kann so, fern aller Didaktik, eine lehr- und hilfreiche Erfahrung werden.(Walter Grünzweig, 25.5.2019)