"Es ist schon ein bisschen anstrengend", sagt Trudy, aber sie sagt das lachend. Kuchen backen, alles aufräumen – sie möchte sichergehen, dass alles schön wird. Das hat sie von ihrer Mutter geerbt, die auch Künstlerin war.

"Aber die wöchentlichen Treffen geben meinem Leben eine Struktur", erzählt die 93-Jährige in ihrer Penthouse-Wohnung in Manhattan. Natürlich wüsste sie manchmal gern genauer, wie viele Gäste es dieses Mal werden. Ob nur fünf kommen oder zwanzig, wie manchmal eben auch.

Trudy (93) ist die aktuelle Gastgeberin des New Yorker Stammtischs.
Foto: Stella Schuhmacher

Trudy, die früher Trude hieß, ist die derzeitige Gastgeberin eines New Yorker Stammtischs, zu dem sich österreichische und deutsche Holocaust-Überlebende wöchentlich zusammenfinden. Und das schon seit dem Jahr 1943.

Die Treffen finden immer am Mittwoch statt. Nur die Startzeit hat sich im Lauf der Jahre von acht auf sieben Uhr vorverschoben – ein kleines Zugeständnis an das hohe Lebensalter der meisten Anwesenden. Trudy will, und das ist ihr wichtig, den Stammtisch aber nicht als religiöse Runde verstanden wissen, sondern als kulturelle.

Sie selbst stammt aus einer nichtreligiösen Wiener Bankiers-Familie und emigrierte 1939 von Wien nach New York, nachdem ihr Großvater monatelang in Dachau interniert gewesen war. "Wir hatten großes Glück", sagt Trudy noch heute, vor allem auch, weil ihnen eine entfernte Verwandte in New York ohne Zögern Bürgschaften besorgt hatte und ihre engste Familie so dem NS-Terror unbeschadet entkommen konnte.

Jeden Mittwoch, 19 Uhr, läutet sie den Stammtisch mithilfe einer Glocke ein.
Foto: Stella Schuhmacher

Ursprünglich gegründet wurde der Stammtisch vom bayrischen Schriftsteller Oskar Maria Graf und vom Wiener Kaufmann George Harry Asher. Anfangs traf man sich in Restaurants und Emigranten-Cafés, unter anderem, um Fleisch zu essen, das damals streng rationiert war. Später kam man in Privatwohnungen zusammen.

Viele der Stammtisch-Besucher waren Künstler und Schriftsteller, es gab auch Vorträge und Lesungen, auch das Thema Politik stand und steht immer wieder im Zentrum der Unterhaltungen. 2012 wurde sogar eine 1.-Mai-Feier mit roten Nelken im New Yorker Central Park abgehalten.

Seit ungefähr zwei Jahren trifft sich die Runde in Trudys Wohnung an der Upper East Side, die sie seit 50 Jahren bewohnt. Trudy ist zierlich und hat strahlend blaue Augen, trägt einen farbenfrohen Rock und auffallenden Schmuck, den sie selbst macht. Viele Pflanzen und Fotografien schmücken die geräumige Wohnung, in der sich nach und nach die Stammtisch-Gäste um einen großen Tisch einfinden. An der Wand ihres Vorzimmers hängt eine Sammlung antiker Schlüssel, die sie von ihrem im KZ verstorbenen Großonkel geerbt hat.

Neue Gäste tragen sich in das Gästebuch ein.
Foto: Stella Schuhmacher

Sehr lebendig geht es beim Stammtisch zu, den Trudy mithilfe einer Glocke offiziell eröffnet. Im Laufe des Abends bimmelt es immer dann, wenn jemand die geschwätzige Runde kurz zum Schweigen bringen will, um etwas zu sagen. Neuankömmlinge stellen sich vor und tragen sich in ein Gästebuch ein.

Ansonsten wird nonstop geplaudert, über Lieblingsorte der Kindheit, österreichisches Essen, die Sommer in Aussee oder an der Ostsee, über Filme und Kultur – und natürlich über Trump. Geredet wird Deutsch. Die ursprüngliche Muttersprache verbindet trotz der meist traumatischen Vertreibungsgeschichten aus der alten Welt. Alle sprechen sich beim Vornamen an. Obwohl jene, die den Holocaust er- und überlebt haben, hochbetagt sind, ist das Alter der Stammtischgruppe mittlerweile gemischt. Häufig stoßen junge Gedenkdiener dazu oder auch Besucher und Besucherinnen aus Österreich und Deutschland. Neunzigjährige reden mit Zwanzigjährigen.

Der harte Kern der Runde

Mit dreizehn wurde Trude nach ihrer Ankunft in New York auf eine Grundschule geschickt, wo sie zunächst mit jüngeren Kindern lernte. Sie sieht sich heute noch weinend auf den Stufen sitzen, bis ihr ein puertorikanisches Mädchen, das auch kein Wort Englisch konnte, die Hand gab: "Ich war ein so schüchternes Kind", erzählt Trudy, die heute gar nicht mehr schüchtern wirkt.

An der Wand ihres Vorzimmers hängt eine Sammlung antiker Schlüssel, die sie von ihrem im KZ verstorbenen Großonkel geerbt hat.
Foto: Stella Schuhmacher

Neben Trudy bilden noch Arnold, Enkel des berühmten Komponisten Schönberg, und die 96-jährige Marion, ursprünglich aus Berlin, den aktuellen harten Kern der Runde. "Wir alle haben etwas gemeinsam: Wir sind Flüchtlinge", bringt es Arnold auf den Punkt. Er ist 95 und versprüht eindeutig eine Art Wiener Charme mitten in Manhattan.

Stolz ahmt er die Stimme seines berühmten Großvaters nach, den er im Alter von sechs Jahren zum letzten Mal gesehen hat. Über seine Erinnerungen an Arnold Schönberg hat er ein Buch geschrieben. Ansonsten spricht er fünf Sprachen fließend und bringt zu jedem Treffen seinen selbstgemachten echten Wiener Erdäpfelsalat mit, den alle lieben.

Überhaupt: Es geht viel ums Essen, vor allem österreichisches Essen. Jeder steuert etwas bei, koscher muss es nicht sein, viel eher Hausmannskost, etwas Süßes wie Powidltascherln. Es wird von Wiener Schnitzel und Salzburger Nockerl geschwärmt, und alle vermissen immer noch das gute, österreichische Schwarzbrot. Früher gab es regelmäßig sogar frisch gemachte Palatschinken mit Marillenmarmelade.

Arnold musste 1938 als "Vierteljude" – "das hat damals schon genügt", sagt er – mit seiner Familie emigrieren. Der Großvater, der schon in Kalifornien wohnte, half bei der Beschaffung der notwendigen Dokumente für die Flucht nach New York. Nach seinem Studium wurde er in die Armee eingegliedert und als US-Soldat nach Nordafrika und Italien geschickt. Beim Rekrutierungsgespräch fragten sie ihn auch, ob er den Feind erschießen würde.

Arnold antwortete: "Wenn ich bemerken würde, dass es ein Schulfreund oder ein Onkel ist, würde ich lieber danebenschießen." Zum Glück wurde er an der Front als Sanitätsträger verwundeter Soldaten eingesetzt und später Übersetzer in einem Militärspital in Neapel. Nach dem Krieg hat er Französisch und Spanisch an der New York University unterrichtet. Seine zweite Frau Nancy, eine gebürtige Amerikanerin, versteht mittlerweile so gut Deutsch, dass sie den Stammtisch-Gesprächen der Emigranten folgen kann.

Seit ungefähr zwei Jahren trifft sich die Runde in Trudys Wohnung an der Upper East Side.
Foto: Stella Schuhmacher

Marion hat in den ersten beiden Jahren beim Stammtisch, erinnert sich die 96-Jährige, kein Wort gesagt. Heute sind die Menschen hier wie eine Familie für sie. Bis vor einem Jahr kam die elegante Frau, sie trägt stets Seidentuch und Ohrringe, immer noch mit dem eigenen Auto. Heute kommt sie mit dem Taxi.

Marion musste Berlin im Mai 1939, damals war sie 16, mit einem Kindertransport nach Großbritannien verlassen. Wenn sie vom Abschied von ihren Eltern am Bahnhof erzählt, steigen ihr heute noch die Tränen in die Augen. Sie lebte bis Kriegsende bei Verwandten in England und emigrierte dann mit ihren Eltern, die das Konzentrationslager Theresienstadt überlebt hatten, nach New York.

Über 40 Jahre hat sie Holocaust-Überlebenden geholfen, ihren Anspruch auf Wiedergutmachungszahlungen durchzusetzen – und konnte so vielen ein "leichteres Alter" verschaffen, wie es die ehemalige Berlinerin formuliert. Genauso wie Trudy reist Marion auch regelmäßig nach Europa in die alte Heimat und ist mittlerweile wieder mit Deutschen befreundet, was sie sich lange nicht vorstellen konnte.

Obwohl das Verhältnis zu den Herkunftsländern kompliziert ist, sind diese traumatischen Erinnerungen beim Stammtisch nur manchmal spürbar. Alle Wiener der Stammtischrunde hätten diese tiefe Sehnsucht nach dem alten Wien, erzählt Marion. Sie selbst empfindet kein Heimweh, sondern eine starke Wehmut. Bis heute fühlt sie sich entwurzelt und beneidet alle, die wissen, wo sie hingehören. Dieses Gefühl wurde ihr von Hitler geraubt. Der Stammtisch, sagt sie, kann dieses Vakuum ein bisschen füllen.

Die politische Situation sowohl in Amerika als auch in der alten Heimat bereitet allen Stammtisch-Besuchern im Moment große Sorgen und natürlich auch die Tatsache, dass sich die Runde immer wieder von jemandem verabschieden muss. Auch Trudy wird nachdenklich, wenn sie von ihrem zwei Jahre älteren Bruder erzählt, der erst vor ein paar Monaten verstorben ist.

Er war ihr einziger noch lebender Verwandter. "Welcher Bezirk?", fragte etwa der Wiener Sozialwissenschafter und Stammtisch-Stammgast Kurt Sonnenfeld jedes Mal Neuankömmlinge. Er verstarb 2017. Oder Gaby Glückselig, Jahrgang 1914 aus Wiesbaden und langjährige Stammtisch-Gastgeberin mit ihrem Mann Fritz, Autor aus Wien und Mitgründer der Zeitzeugen-Runde. Gaby Glückselig wurde übrigens 101 Jahre alt.

In den Monaten vor ihrem Tod im Jahr 2015 lag sie in ihrem Bett, während sich der quirlige Stammtisch im Nebenzimmer weiter Mittwoch für Mittwoch in ihrer winzigen Wohnung traf. In einer Nacht nach einem solchen Stammtisch-Treffen verstarb sie dann. Woraufhin sich einige der Gäste, die noch auf dem Heimweg waren, wieder in ihrer Wohnung versammelten, um noch einmal Abschied zu nehmen. Für immer. (Stella Schuhmacher, 26.5.2019)