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Auf Schiene: Entgegen einem verbreiteten Klischee war der europäische Zug von Anfang an ein politisches Projekt, nicht nur ein ökonomisches.

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"Mit Europa ist es wie mit einem Damm. Den Bau zu errichten genügt nicht. Er muss gesichert, abgestützt, und – wenn nötig – verstärkt werden." Doron Rabinovici

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Fluchtpunkt ist ein doppeldeutiges Wort: Europa ist ein Asyl für Unzählige, die vor Krieg und Folter fliehen. Auch dieser Zug geht nach Europa, und während ich rede, brechen wieder ganze Familien auf, Kinder an der Hand, Säuglinge an der Brust, manch Großmutter auf dem Rücken. Sie riskieren ihr nacktes Leben, um es zu retten. Europa ist für sie eine Verheißung.

Züge gingen einst durch Europa, in die Unzählige, auch meine Verwandten, einst gepfercht wurden. Die europäische Idee gewann nach dem Zweiten Weltkrieg und nach Auschwitz an Kraft. Die Pioniere der Union wollten dem Europa der Vernichtung entkommen, um ein Europa des Friedens aufzubauen. Europa wurde zur Parole, um vor dem zu fliehen, was viele auch heute hertreibt.

Diese Vision von Europa liegt nicht in Minsk und nicht in Moskau. Europa ist kein eigenständiger Weltteil wie Afrika, Amerika oder Australien. Es ist geografisch besehen nur ein Wurmfortsatz Asiens. Es ist keine kulturelle Eigenheit. Mozart und Beethoven werden längst schon auch in China, in Japan oder in Argentinien gespielt. Europa ist keine kulturelle Einheit. Es ist die Vielfalt, die es auszeichnet.

Was ich hier Europa nenne, meint die Union. Die Rechten erklären, Europa verteidigen zu wollen gegen den Islam, doch in Wirklichkeit verraten sie alle Freiheiten der Union. Wie die Islamisten ziehen sie gegen die offene Gesellschaft zu Felde. Das Abendland, das sie beschwören, war von Kirche und Königen dominiert. Das Abendland ging auf Kreuzzug gegen den Orient. Das Abendland war judenfeindlich. Es kannte keine Emanzipation für Frauen und keine Rechte für Homosexuelle. Dieses Abendland ist untergegangen – und das ist gut so.

Spiel mit nationalistischem Feuer

Die Europäische Union war von Anfang an ein politisches Projekt. Manche Kritiker behaupten, es gehe bei der EU nur um Ökonomie. Die Spanier, die Griechen und die Portugiesen wissen es besser. Ihre Staaten mussten die Diktatur abschütteln, ehe sie Mitglied werden konnten. Die Länder im Osten mussten erst demokratisch werden, bevor sie beitreten durften.

Europa wurde als Wirtschaftsgemeinschaft, als Montanunion begonnen. Die Idee dazu hatte Robert Schuman, jener französische Staatsmann mit ursprünglich deutscher Staatsbürgerschaft, geboren 1886 im heute luxemburgischen Clausen. Im Zweiten Weltkrieg schloss er sich der Résistance an. Nach 1945 ging es ihm nicht um Rache, sondern darum, jene Rohstoffe, die kriegswichtig waren, nicht mehr der nationalen Oberhoheit zu überantworten. Sie sollten supranational behütet und verwertet werden. Diese Vision war und ist eine Revolution. Eine weltweite Premiere.

Wer das nicht versteht, sollte für einen Moment bedenken, was es bedeuten würde, kämen auch in anderen Weltregionen jene Industriezweige, um die es bei Aufrüstung geht, in eine gemeinsame Hand. Können wir uns einen Nahen Osten vorstellen, in dem die Erdölgewinnung nicht mehr von einzelnen Regimen und auch nicht von Konzernen beherrscht ist, sondern supranational von demokratischen Regierungen? Oft wird gesagt, es wäre besser gewesen, die Kultur zur Grundlage des europäischen Einigungswerks zu machen. Aber das ist falsch: Die Union ist der Versuch, den Zwist der Kulturdünkel zu zähmen.

Es genügt nicht zu sagen, wir wollen keinen Krieg. Die meisten Eroberer der Geschichte beteuerten, nur Frieden zu wollen. Wer die Schilderungen der großen Historikerin Barbara Tuchman liest, erkennt: Die Regierungen taumelten 1914 blindlings in die Weltenzerstörung. Als die Truppen ins Feld zogen, meinten alle, das Schlachten werde bald wieder vorbei sein.

Unglaublich, wie schnell der nationalistische Hass alles in Asche legen kann. Wer hätte vor drei Jahren gedacht, es könnte in Katalonien ein blutiger Konflikt drohen? Mitten in der EU! Das Spiel mit dem nationalistischen Feuer beginnt zunächst ganz harmlos. War der Brexit vorauszusehen? 1998 waren alle überzeugt, der Konflikt zwischen Großbritannien und Irland sei endgültig überwunden. Aber am 18. April starb nach Jahren der Koexistenz wieder ein Opfer des völkischen Hasses. In Derry wurde Lyra McKee, 29 Jahre alt, erschossen, eine irische Journalistin, eine lesbische Aktivistin, die über den Konflikt, über Flüchtlinge und über Gewalt gegen Frauen schrieb.

Was in Europa nach 1945 entstand, ist die Ausnahme in der blutigen Geschichte dieses Kontinents. Es ist wie bei einem Damm. Den Bau zu errichten genügt nicht. Er muss gesichert, abgestützt und – wenn nötig – verstärkt werden. Wir müssen Deichwarte des Friedens sein. Diese Aufgabe ist nicht abgeschlossen und wird es nie sein. Es ist wie ein Leben an einer Staumauer. Das Scheitern der gewaltigen Konstruktion birgt eine existenzielle Gefahr. Das Auseinanderbrechen großer Staatenbündnisse führte oft zum Erwachen alter Konflikte.

Die autoritären Populisten untergraben alles, was nach 1945 errichtet wurde. Sie hetzen die Völker gegeneinander auf. Sie rufen die alten Ressentiments an. Ob Viktor Orbán, Jaroslaw Kaczynski oder Matteo Salvini: Sie schüren den Hass gegen Minderheiten. Sie setzen auf Verschwörungstheorien. Sie heben die Gewaltenteilung auf. Sie machen mobil gegen die liberale Demokratie, gegen die unabhängige Justiz, gegen die Menschenrechte, gegen die freien Medien, gegen die kritische Kunst. Sie verleumden freie Universitäten. Intellektuelle werden auf den Index gesetzt. Schwarze Listen werden veröffentlicht. Jeder kann die Namen lesen. Der Rufmord ist die Regierungserklärung. Sie diffamieren die NGOs. Die Organisationen der Zivilgesellschaft werden verdächtigt, Verräter des Volkes zu sein, die nur Geschäfte machen wollen und im Bunde mit dem Journalismus stehen, der als Lügenpresse beschimpft wird.

Sind wir endlich europareif?

Die Beschwichtiger sind unterwegs. Sie erzählen uns, es sei noch nichts geschehen, solange uns nichts passiert. Aber sie vergessen, dass es um uns geschehen sein wird, wenn wir warten, bis uns etwas passiert. Wir haben es gesehen: Das Bundesamt für Verfassungsschutz, das uns gegen Extremisten schützen soll, wurde gestürmt. Die Unabhängigkeit des ORF wurde angegriffen. Still und leise wurden Verbindungsoffiziere in diverse Ministerien postiert. Was in Wien jedoch eben gescheitert scheint, ist noch nicht überwunden. Die autoritären Populisten greifen nach der Union. Sie sind in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Die Gefahr ist nicht gebannt.

Die Autokraten wissen, dass die EU ein freiwilliger Zusammenschluss liberaler Demokratien rechtsstaatlicher Ordnung ist. Sie haben begriffen, dass die Union ein Hebel gegen kulturell überliefertes Unrecht und gegen die Vormacht multinationaler Konzerne sein kann. Sie fürchten die supranationalen Lösungen, weil sie das alles erkannt haben. Sie lehnen eine globale Perspektive ab. Sie wollen ein Europa, das nichts als eine Wirtschaftsgemeinschaft ist. Sie möchten Gelder aus Brüssel kassieren, doch nichts von europäischen Menschenrechten wissen.

Die Nationalstaaten sind dem Standortwettbewerb der Konzerne hilflos ausgeliefert. Da das Europa des Kapitals eine Realität ist, wird das Europa der Politik zur Notwendigkeit. Der Nationalstaat kann das Sozialsystem nicht mehr schützen, kann die Klimakatastrophe nicht aufhalten, kann die Internetkonzerne nicht bändigen. Wenn indes der Markt supranational wirkt, kann er nur supranational bezähmt werden.

Bruno Kreisky wusste das bereits im Jahr 1971. In seiner zweiten Regierungserklärung, als er die absolute Mehrheit errungen hatte, hieß es: "Es ist die Überzeugung der Bundesregierung, dass sich Österreichs Beteiligung an der europäischen Integration in dem Maße friktionsfrei gestalten wird, als es gelingt, Österreich auf vielen Gebieten europareif zu machen." Erstaunlich, wie früh dieser Visionär den Begriff "europareif" verwendete.

Union in der Krise

Aber sind wir endlich europareif geworden? Nein, die Union ist in der Krise. Sie findet noch nicht zu gemeinsamen Lösungen. Sie nimmt den nationalen Abgeordnetenhäusern, was sie dem gemeinsamen Parlament bisher nicht gibt. Die nationalen Regierungen spielen Blinde Kuh mit ihren Wählern.

Was sie im Rat gemeinsam beschließen, wird hernach Brüssel in die Schuhe geschoben. Die Parteien werden nur national gewählt, und die meisten Listen tun so, als ginge es alleinig um nationale und nicht um europäische Fragen. Die oberösterreichische Volkspartei erklärt etwa: "Bei der Europawahl am 26. Mai geht es um die Entscheidung, ob Oberösterreich weiterhin im EU-Parlament vertreten sein wird."

Ginge es nicht eher darum, den völkischen Nationalismus zu überwinden, ohne die kulturelle Selbstbestimmung und den patriotischen Freigeist zu verletzen? Aber durch die Integration ist eine neue europäische Gesellschaft im Entstehen, und diese Zukunft wird auch nicht durch noch so hohe Mauern aufgehalten werden können.

Gegen die Populisten gilt es, die Stimme für ein demokratisches, ein sozial und ökologisch bewusstes Europa der Menschenrechte zu erheben. Die Union braucht ein starkes Parlament, das mit der Kommission dem Egoismus der Nationalregierungen entgegenzutreten weiß.

Die Union braucht eine solidarische Gewerkschaftsbewegung, ein gemeinsames Sozialsystem. Mit europäischen Pässen. Die Union braucht einen New Green Deal. Ja, die Union ist in der Krise, doch aus Krisen und in deren Überwindung nur wuchs die Europäische Union seit 1945. Wir sind mitten drin.

Das ist der Augenblick. Hetze oder Frieden. Tyrannei oder Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Feminismus, Emanzipation, Klimaschutz. Da geht ein Zug in eine Republik Europa, die erst entsteht. Es ist höchste Eisenbahn. Wir können die Weichen stellen. Es kommt auf uns an. (Doron Rabinovici, 26.5.2019)