Im Gastkommentar plädiert der spanische Politiker Javier Solana, sich für das Europa von morgen zu engagieren. Mit Strategien "aus einer idealisierten Vergangenheit" könne die Europäische Union die Herausforderungen, vor denen sie steht, nicht meistern.

Alle fünf Jahre übt sich die EU in Selbstreflexion. Die Wahlen zum Europaparlament erlauben es uns, uns im Spiegel zu betrachten und über die vergangene Zeit Bilanz zu ziehen. Die Wahlen sind diesmal jedoch etwas Besonderes: Sie sind die ersten seit der Flüchtlingskrise, dem Brexit-Referendum und der Wahl von US-Präsident Donald Trump. In diesen stürmischen Jahren war unser Blick ständig auf den Spiegel gerichtet. Nach dieser Wahl wird unser Spiegelbild endlich die Klarheit annehmen, nach der wir uns gesehnt haben.

Die Europawahlen werden gewöhnlich als zweitrangig etikettiert. Vor drei Monaten wussten nur 33 Prozent der Wähler, dass die Wahlen im Mai stattfinden würden, und nur fünf Prozent das genaue Datum. Und doch zeichnen die Meinungsumfragen ein sehr viel optimistischeres Bild. Die jüngste Eurobarometer-Umfrage zeigt, dass – lässt man die Briten außen vor – fast sieben von zehn Europäern der Ansicht sind, ihr Land habe von der europäischen Integration profitiert; das ist der höchste Anteil seit 1983. Eine Mehrheit der britischen Bevölkerung ist inzwischen übrigens derselben Ansicht.

Angst vor der Zukunft

Doch hat europaweit eine gewisse politische Entfremdung eingesetzt, die sich auf alle Ebenen der Regierungsführung auswirkt. Besonders ausgeprägt ist das Problem in den Ländern, die nach der Jahrhundertwende beigetreten sind. Die Osteuropäer vertrauen dem politischen System tendenziell weniger als die Westeuropäer. Auch unter jungen Europäern ist die Unzufriedenheit mit den Institutionen hoch und die Wahlbeteiligung gering – obwohl sie europafreundlicher eingestellt sind als der Durchschnitt.

Selbst für die Generationen, die die Entwicklung des europäischen Projekts während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hoffnungsvoll beobachteten, ist der Honeymoon vorbei. Der bulgarische Politologe Ivan Krastev hat argumentiert, dass wir statt des zuerst von Francis Fukuyama 1989 beschriebenen "Endes der Geschichte" das Ende des Interesses der meisten Menschen an der Geschichte erreicht zu haben scheinen. Krastev hat es, zusammen mit Mark Leonard und Susi Dennison vom European Council on Foreign Relations, so formuliert: "Die EU wurde von Gesellschaften geschaffen, die sich vor der Vergangenheit fürchteten. Heute haben die Europäer Angst vor der Zukunft."

Angst vor der Zukunft – und dem Klimawandel – haben die Jugendlichen, die sich bei den Fridays For Future engagieren.
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Neue Quellen der Legitimität ...

Obwohl es nach wie vor wichtig ist, die Rolle der europäischen Integration als Friedensgarant im Gefolge des Zweiten Weltkriegs zu betonen, braucht die EU zusätzliche Quellen der Legitimität. Unglücklicherweise hatten die von der EU und ihren Mitgliedstaaten ziemlich schlecht gehandhabten wirtschaftlichen und migrationsbedingten Herausforderungen der letzten Jahre die gegenteilige Wirkung. Dies bot nationalistisch-populistischen Parteien Gelegenheit, Unterstützung zu gewinnen, indem sie versprachen, gegenwärtige und künftige Herausforderungen wie die sich verstärkende demografische Krise mit Strategien aus einer idealisierten Vergangenheit – etwa der nationalen Abschottung – zu bekämpfen.

Das Brexit-Chaos jedoch hat die deutliche Botschaft versandt, dass der Wind außerhalb der EU sehr kalt bläst. Das Vereinigte Königreich fröstelt schon jetzt; dabei hat es gerade erst die Tür aufgemacht. Geografische Entfernungen, enge wirtschaftliche Verbindungen und das relativ geringe wirtschaftliche Gewicht der europäischen Länder sind alles unausweichliche Realitäten. Die Bürger haben dies zur Kenntnis genommen, und es ist kein Wunder, dass die nationalistisch-populistischen Parteien auf dem Festland anscheinend aufgehört haben, einen EU-Austritt in Betracht zu ziehen.

Beschämte Britin bei einer Anti-Brexit-Demonstration in London.
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... und ein neuer Gesellschaftsvertrag

Diese Parteien sind sich in vielen Fragen uneins, aber einen gemeinsamen Nenner finden sie in ihrem fremden- und einwanderungsfeindlichen Diskurs. In dieser Hinsicht ist zu betonen, dass das Asylrecht international anerkannt ist, Migration allgemein zur Bewältigung unseres demografischen Niedergangs beitragen kann und es in der industrialisierten Welt deutlich weniger Einwanderer gibt als allgemein angenommen. Eine unkontrollierte Migration abzulehnen ist vernünftig; unseren Nachbarn den Rücken zu kehren ist es nicht. Wir sprechen hier nicht allein von einem humanitären Gebot; äußere und innere Sicherheit sind schließlich untrennbar miteinander verknüpft.

So oder so ist das Thema, das heute die meisten Europäer bewegt, nicht die Einwanderung, sondern die Wirtschaft. Eine der größten aktuellen Herausforderungen ist die Ungleichheit, die in fast allen OECD-Ländern zunimmt. Zugleich hat sich wegen der Wirtschaftskrise auch die Kluft zwischen Nord und Süd verbreitert. Obwohl sich die Mitgliedstaaten ihrer Verantwortung nicht entziehen können, müssen die europäischen Institutionen mehr tun, um den Zusammenhalt zu fördern. Hierzu bedarf es eines neuen Gesellschaftsvertrages, der von technologiebedingten Störungen des Arbeitsmarkts bis hin zur ökologischen Nachhaltigkeit alles abdecken sollte.

Das Thema, das die meisten Europäer bewegt, ist die Wirtschaft. Eine der größten Herausforderungen ist die Ungleichheit.
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Integrationsfreundliche Mehrheit mobilisieren

So paradox es sein mag: Die europäische Integration ist während des vergangenen Jahrzehnts ohne Unterbrechung vorangeschritten. Es liegt natürlich noch ein langer Weg vor uns. Doch hatte die EU nie zuvor wirksamere Instrumente zur Bewältigung möglicherweise auftretender wirtschaftlicher und finanzieller Herausforderungen zur Verfügung. Wenn die EU diesen Weg nach den Wahlen fortschreiten und sich ihre Rolle als multilateraler Akteur in einer zunehmend durch den Wettbewerb der Großmächte gekennzeichneten Welt bewahren soll, muss die relativ stille integrationsfreundliche Mehrheit sich zu Wort melden und mobilmachen.

Zumindest haben es die Europäer durch die Selbstbetrachtung der letzten Jahre endlich geschafft, einen gemeinsamen politischen Raum hervorzubringen. Statt zuzulassen, dass die populistischen Nationalisten diesen gegen sie einsetzen, müssen die EU-freundlichen Parteien ein transformatives, auf die Zukunft fokussiertes Narrativ entwickeln.

Nostalgische Lähmung vermeiden

Wie der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig mögen auch wir uns gelegentlich nostalgisch an der "Welt von gestern" erfreuen. Doch wie Zweig müssen wir uns weiterhin für zukunftsgerichtete Projekte einsetzen – wie jenes friedliche, geeinte Europa, das Zweig nicht mehr erlebt hat. Die beste Hommage an die Apostel der europäischen Einheit bestünde darin, eine nostalgische Lähmung zu vermeiden und uns für den Aufbau des Europa von morgen zu engagieren. (Javier Solana, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 24.5.2019)