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Trauriger Abgang: Theresa May.

Foto: REUTERS/Hannah McKay/File

"Ich habe mein Bestes gegeben." Mit diesem Satz hat Theresa May am Freitag in London nach wochenlangen Spekulationen den Schlussstrich unter ihre knapp dreijährige Amtszeit als britische Premierministerin gezogen. Die 62-Jährige will am 7. Juni zunächst als Vorsitzende ihrer konservativen Partei zurücktreten; bis Mitte Juli sollen dann deren Unterhaus-Abgeordnete sowie die Mitglieder über Mays Nachfolge in Partei- und Staatsamt entscheiden. Als Favorit gilt der frühere Außenminister Boris Johnson. Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn forderte sofortige Neuwahlen.

Frage: Warum kam die Erklärung am Freitag?

Antwort: May stand seit Monaten unter dem Druck ihres rechten Parteiflügels, vor allem der Brexit-Ultras. Ein fraktionsinternes Misstrauensvotum hatte sie im Dezember gerade noch überstanden; schon damals stimmte ein Drittel der konservativen Unterhaus-Abgeordneten gegen sie. Widerstrebend musste die Vorsitzende öffentlich bestätigen: Sie würde die älteste Partei der Welt nicht in die nächste Wahl führen. Diese Formulierung hätte eine Amtszeit bis 2022 ermöglicht.

Nach den katastrophalen Niederlagen für ihr EU-Austrittspaket zu Jahresbeginn nahm May eine weitere Frontbegradigung vor: Sie werde Staats- und Parteiamt "vor der nächsten Phase der Brexit-Verhandlungen" niederlegen. Kürzlich verlegte sich die Premierministerin auf einen letzten Versuch: Anfang Juni sollte sich das Unterhaus erneut mit dem Austrittsvertrag und der politischen Erklärung beschäftigen, angereichert nun durch die Möglichkeit, die Zustimmung an eine Zollunion mit der EU und sogar an ein zweites Referendum zu koppeln.

Dies ging bisher kompromissbereiten Brexiteers wie der Parlamentsministerin Andrea Leadsom zu weit. Leadsoms Rücktritt, dazu der energische Widerstand von Außenminister Jeremy Hunt und Innenressortchef Sajid Javid brachten die Regierungschefin am Donnerstag auf den Boden der Realität: Ihre Zeit war um.

Nach einem Gespräch mit dem Leiter der Tory-Hinterbänkler, Graham Brady, auch er ebenso wie die Vorgenannten ein Nachfolgekandidat, trat May am Freitag ans hastig installierte Rednerpult vor ihrem Amtssitz in der sonnenüberfluteten Downing Street. Sie empfinde tiefes Bedauern darüber, dass der vom Volk beschlossene EU-Austritt bisher nicht vollzogen sei, sagte die Premierministerin und räumte damit ihr Scheitern an der wichtigsten Aufgabe ihrer Amtszeit ein. Nachfolgerin oder Nachfolger müssten bewerkstelligen, was ihr selbst verwehrt geblieben sei: einen Konsens im Unterhaus zu finden über das beste Brexit-Vorgehen.

"Kompromiss ist kein schmutziges Wort", mahnte die Regierungschefin die Parlamentarier und das tief zerstrittene Land: "Unser Leben hängt vom Kompromiss ab." Zum Schluss ihrer zehnminütigen Ansprache versagte ihr beinahe die Stimme, als sie von der "größten Ehre meines Lebens" sprach, "dem Dienst an dem Land, das ich liebe". Unter Tränen verschwand May hinter der schwarzen Tür mit der goldenen Nummer 10.

Frage: Welche unmittelbaren Folgen hat ihre Rücktrittserklärung?

Antwort: Da May offiziell von der Queen ernannt wurde, ändert sich zunächst an ihrem Status gar nichts. Sie bleibt Premierministerin in einer Phase, in der die Konservativen eine schlechte Nachricht nach der anderen verkraften müssen. Spät am Sonntagabend werden die Ergebnisse der Europawahl vom Donnerstag bekanntgegeben. Den Umfragen zufolge dürfte die Partei höchstens zehn Prozent (Unterhauswahl 2017: 42) und damit das schlechteste Ergebnis seit Einführung demokratischer Wahlen erzielt haben.

Anfang Juni kommt US-Präsident Donald Trump auf Staatsbesuch. Ihm den roten Teppich auszurollen wird der Regierungspartei kaum Pluspunkte einbringen. Am 6. Juni steht den Konservativen dann eine weitere schmerzhafte Niederlage ins Haus. Bei der Nachwahl in Peterborough sehen die Demoskopen die Regierungspartei hinter der Brexit-Party von Nigel Farage und Labour abgeschlagen auf Platz drei.

Tags darauf legt May offiziell ihr Amt als Parteivorsitzende nieder und gibt damit den Startschuss für das Nachfolgerennen. Das parteiinterne Verfahren sieht vor, dass die Unterhaus-Abgeordneten das große Bewerberfeld in mehreren Abstimmungen auf zwei Kandidaten reduzieren, die danach den rund 120.000 Parteimitgliedern zur Wahl gestellt werden. Bis Mitte Juli soll die Nachfolgerin oder der Nachfolger feststehen; erst dann verlässt May ihren Amtssitz in der Downing Street und bittet Elizabeth II um ihre Entlassung.

Frage: Wer bringt sich mit welchem Konzept für Mays Nachfolge in Stellung?

Antwort: Einen Hinweis auf die Priorität der Brexit-Ultras lieferte die Reaktion von Nigel Farage, dessen neugegründete Brexit-Party die Europawahl gewonnen haben dürfte. May habe die Stimmung im Land falsch eingeschätzt, behauptete der Befürworter des Chaos-Brexits ("No Deal"). Nach zwei proeuropäischen Chefs müssten die Tories nun einen Brexiteer wählen: "Sonst ist die Partei erledigt."

Tatsächlich konzentrieren sich die Nachfolge-Überlegungen der 313 konservativen Fraktionsmitglieder auf jene Kandidaten, die im Referendum 2016 für den EU-Austritt geworben hatten. Boris Johnson, 54, hat in den vergangenen Monaten viele Abgeordnete umworben und damit einen Makel seiner gescheiterten Kandidatur vor drei Jahren ausgemerzt. Eifrig Unterstützer sammelte auch der kurzzeitige Brexit-Minister Dominic Raab, 45. Der dogmatische Brexiteer hat sich mit der Mitteilung unsterblich gemacht, er habe "gar nicht gewusst, wie viel von unserem Handel über Dover und Calais abgewickelt wird", nämlich etwa 30 Prozent aller britischen Importe. Dennoch verfolgt Raab unbeirrt den Chaos-Brexit.

Hingegen haben andere einstige Brexit-Vorkämpfer wie Umweltminister Michael Gove, 51, und Verteidigungsministerin Penelope Mordaunt, 46, bis zuletzt loyal zu May gehalten. Respekt erworben hat sich auch Andrea Leadsom, 56. Außenminister Jeremy Hunt, 52, und Innenressortchef Sajid Javid, 49, bekennen sich erst neuerdings zum Brexit. EU-Freunden wie Sozialminister Amber Rudd, 55, werden keine Chancen eingeräumt; eine etwaige Kandidatur würde in ihrem Fall darauf abzielen, in der neuen Regierung eine herausragende Rolle zu spielen.

Frage: Wie wahrscheinlich ist Premierminister Boris Johnson?

Antwort: Bei Buchmachern und beim Parteivolk kommt dem einstigen Londoner Bürgermeister und Außenminister eindeutig die Favoritenrolle zu. In der konservativen Partei ist dies keine komfortable Position: Seit mehr als 50 Jahren gewann bei allen Kämpfen um den Parteivorsitz am Ende nie der ursprünglich Führende.

Für seine beiden Amtszeiten im Londoner Rathaus konnte Johnson auch Stimmen jenseits des konservativen Lagers gewinnen. Sein Appeal bei den überwiegend EU-freundlichen Hauptstädtern (60 Prozent für Verbleib) hat allerdings durch seine Brexit-Haltung ebenso gelitten wie in Schottland (62). Hingegen genießt der Mann mit dem blonden Wuschelkopf in weiten Teilen Englands hohe Zustimmungswerte. Nach der Scheidung von seiner Frau lebt der Vater von vier ehelichen Kindern und mindestens einem unehelichen Kind mit einer mehr als 20 Jahre jüngeren Frau zusammen, hat sich die Haare schneiden lassen, Gewicht verloren und praktiziert neuerdings Yoga.

Johnson propagiert eine Neuverhandlung des Austrittsvertrages mit dem Ziel, die Notfalllösung für Nordirland, den sogenannten Backstop, zu verändern. Anhänger des ebenso gescheiten wie bekanntermaßen chaotischen Politikers argumentieren, Johnson könne als prominenter Brexiteer seinem eigenen Lager jene Kompromissbereitschaft abverlangen, die Theresa May verwehrt wurde. Kritiker warnen davor, Johnson werde zu hoch pokern und den No Deal verschulden, mit herben wirtschaftlichen Folgen für Großbritannien und die EU.

Frage: Wie reagiert die EU, und was bedeutet das für den Brexit?

Antwort: Am Freitag standen die Nachrufe auf Theresa May im Vordergrund. Eine Sprecherin von Angela Merkel sprach von "Respekt" vor einer Politikerin, mit der die Bundeskanzlerin gut zusammengearbeitet habe. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker lobte May als "mutige Frau".

Es gab auch warnende Stimmen. Eine spanische Regierungssprecherin bezeichnete den Rücktritt als schlechte Nachricht, weil dieser den No Deal wahrscheinlicher mache. Tatsächlich dürfte ein Entgegenkommen Brüssels entscheidend von der Position Irlands abhängen. Premierminister Leo Varadkar hat stets eisern am Backstop festgehalten; andererseits wäre aber der No Deal für die Grüne Insel mindestens so verheerend wie für das Austrittsland selbst. (Sebastian Borger aus London, 25.5.2019)