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Sebastian Kurz' Profil ist verblasst, es wird an Schärfe gewinnen müssen, damit er erneut reüssieren kann.

Foto: Reuters / Leonhard Foeger

Sebastian Kurz wird sich etwas neues überlegen müssen. "Die Verschlusssache Balkanroute verblasst", stellt der Wissenschafter David M. Wineroither im Gastkommentar fest, das Neu-Regieren landete im "Altstilcontainer".

Fehleranfälligkeit rundum: ein Kanzleramtsminister und EU-Spitzenkandidat in den Untiefen des Vereinswesens, eine große Oppositionspartei, die sich vom Nischenkollegen die Butter vom Brot streichen lässt; Jetzt im eigenbrötlerisch geführten internen Disput ums parlamentarische Vorgehen. Das Stakkato der jüngsten Ereignisse als Stressfaktor: eines ungewöhnlicher als das andere. Weiter oben indes benötigt der Kanzler zusätzliche Orientierungszeit, seine verzögerten Auftritte mit der Komplexität der Aufgabe erklärend – was dem Erfinder nach als entwaffnende Ehrlichkeit durchgehen sollte.

Und dennoch geriet der Regierungschef selbst zwischenzeitlich ins Hintertreffen: wirkte, wenn schon nicht unentschlossen, so doch getrieben. Und irgendwie überrascht. Die Aufkündigung der Koalition war eine Notwendigkeit. Ein Übergang mit Norbert Hofer an seiner Seite hätte jedoch mehr Vorteile als Nachteile geboten, denn die im Zuge der Entlassung Herbert Kickls eingetretene Entwicklung trifft ihn dort, wo er am verwundbarsten ist: im Spagat der Verkörperung von Mainstream-Politik und Establishment einerseits, neuartigem Regieren in Stil und Inhalt andererseits. Innerparteiliche Reform, Rechtsschwenk in der Migrationsfrage, eigenes Talent und Jugendhaftigkeit – sie hatten ein ausreichendes Polster ergeben, um zumindest den wichtigsten Konkurrenten, die SPÖ, wirklich alt aussehen zu lassen.

Schwarze Machtversessenheit

Die Zerbrechlichkeit dieser Rahmenerzählung zeigte sich dann bereits rund um das Aufkommen der Silberstein-Affäre, die türkise Wahlbewegung profitierte nach allen vorliegenden – auch datengetränkten – Informationen gar nicht davon. Im Gegenteil: Kurz wäre beinahe in den Strudel des "Sind (doch) alle gleich!" hineingezogen worden. Es wirkte auf viele Bürger einfach kitschig passend zusammen und zugunsten der "ÖVP neu", soll heißen: Es passte einfach zu gut. Verdächtig, daher brandgefährlich – damals wie heute. Solcherart auch ein Treppenwitz der Innenpolitikgeschichte, dass Besagter nunmehr ausgerechnet vom Kanzler erneut vor den Vorhang gezogen wurde.

Nun also eine Entwicklung, die politischen Gegnern und skeptischen Wählern ebendiese unwillkommene Perspektive auf den Amtsinhaber eröffnet: Der Uraltstil offenbare sich in pechschwarzer Machtversessenheit. FPÖ und SPÖ trommeln Seite an Seite: zwei ausgehebelte Regierungskoalitionen, eventuell zwei zu Fall gebrachte Kanzler – je eine / je einer pro Jahr als Bilanz seiner Parteiobmannschaft; doppelbödige Argumentationslinie der Kanzlerpartei mit Blick auf die Entlassung des Innenministers (nicht unplausibel unter Verweis auf den Verlauf der Strasser-Malaise); die Handreichung von ÖVP-Vertrauensleuten in Richtung der neu ernannten Expertenminister. All das kulminiert im heraufbeschworenen Eindruck einer verkappten schwarzen Alleinregierung. Sogar der Verweis auf die Reformbilanz kommt in diesem Kontext mit einem Pferdefuß daher: Vieles wurde angegangen, doch befand sich eine längst überfällige echte Reform der Parteienfinanzierung nicht darunter.

Politischer Instinkt

Auf einem Stimmenanteilsniveau von 20 bis 30 Prozent muss das kein oder kein gravierender Nachteil sein, auf dem 2017 gefunden Plateau darüber schnürt es schnell die Luft ab. Für einen angepeilten Wahltriumph in der Nähe der Schüssel-Sphäre des Jahres 2002 (42 Prozent!) stellt es überhaupt eine gewaltige Hypothek dar. Die freiheitliche Konkursmasse bewegt sich dieses Mal in anderer Größenordnung: Dort hat man die Führungsfrage geklärt – vordergründig vielleicht, doch rasch und ohne gröberes Spaltpotenzial. Schwarz-Blau II zerfiel hingegen wesentlich rascher als die Erstauflage dieses Koalitionsformats – wenig Zeit, um (noch) mehr FPÖ-Wähler an sich zu binden, trotz des EU-Bashings der vergangenen Wochen.

Nicht, dass der Kanzler nicht rasch Tritt gefasst hätte. Seine politischen Instinkte funktionieren weiterhin beeindruckend gut (wie im Frühsommer 2017 mit der Nichtübernahme des Postens als Vizekanzler): die Tandemeinlage mit dem Bundespräsidenten, die manch langen Schatten der Hierarchie über dem traditionellen Rollenverzicht der Amtsinhaber in der Hofburg freilegt, um der oppositionellen Kritik an "machtbesoffenen" Alleingängen den Wind aus den Segeln zu nehmen; das Festhalten an der Außenministerin; das Ausrufen regierungspolitischer Windstille: keine Zeit für Reformen, reine Gewährung von Stabilität, Sicherstellung von Verwaltungsabläufen. Bescheidenheit, beinahe Demut.

Neue Aufgabe

Gegenüber den Sozialdemokraten zeigt er sich in auffälligem Kontrast dazu eher unerbittlich. Das klingt nach einer lauwarmen Halb-halb-G'schicht, die eigentlich nicht funktionieren sollte: zwanzig Zentimeter über dem Parteienhader stehend und doch einen Lagerwahlkampf führend. In letzter Zeit haben sich allerlei sonderbare Formen der Arbeitsteilung in der Innenpolitik etabliert: der türkis-schwarze Hybride, die Doppelspitze aus Othmar Karas und Karoline Edtstadler, die "Good Cop, Bad Cop"-Inszenierung Hofers und Kickls. In Mode gekommen, weil überraschend profitabel.

Ob Wahltriumph oder Niederungen der Ebene – so oder so stellt sich für Kurz bedingt durch das rasche Koalitionsende die Aufgabe, sich neu erfinden zu müssen: Die Verschlusssache Balkanroute verblasst, während das Neu-Regieren im Altstilcontainer landete. Es wie Schüssel machen und seine Partei die Drachentöterlegende bemühen lassen? In Verlängerung der Werkbank "Expertenregierung" das Image eines entideologisierten ehrlichen Maklers offerieren? Beides möglich, beides kaum in Entsprechung seines politischen Wesens. Versatzstücke, die bestenfalls durch einen Wahlkampf tragen. Es braucht eine zusätzliche Gelegenheit, einen Glücksfall, um eine wirkungsmächtige große Erzählung zu spinnen – wie seinerzeit die Merkel'sche Willkommensbotschaft. Bleibt's beim Paukenschlag "Ibiza"? (David M. Wineroither, 27.5.2019)