Hans Kelsen, im Bild seine Büste im Verfassungsgerichtshof, gilt als "Vater" und "Architekt" der österreichischen Bundesverfassung von 1920.

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Österreich mag sich in einer neuen und schwierigen politischen Situation befinden, so der Grazer Rechtsprofessor Bernd Wieser, mit den Instrumentarien der Bundesverfassung ist die Republik dafür aber gut gewappnet.

Der 27. Mai 2019 wird in jedem Fall in die österreichische Verfassungsgeschichte eingehen: entweder als Tag, an dem ein Misstrauensvotum gegen den Bundeskanzler erstmals zumindest eine reale Chance hatte, oder gar als Tag, an dem ein Kanzler erstmals gestürzt beziehungsweise dessen Sturz eingeleitet wurde.

In den letzten Tagen konnte man den Eindruck gewinnen, dass von verschiedenen Seiten eine solche Entwicklung zur Staatskrise hochstilisiert wurde. Fraglos ist das politische Gefüge Österreichs infolge des Ibiza-Skandals tief erschüttert. Wenn man sich freilich nüchtern die Instrumentarien der Bundesverfassung vor Augen hält, stellt sich die Situation als nicht ganz so dramatisch dar. Im Folgenden vier Szenarien:

Szenario 1 Nach der Bundesverfassung kann der Nationalrat sowohl der gesamten Bundesregierung als auch einem einzelnen Regierungsmitglied, somit auch dem Bundeskanzler, das Misstrauen aussprechen. Findet der Misstrauensantrag eine Mehrheit im Nationalrat, so hat der Bundespräsident den Bundeskanzler seines Amtes zu entheben. Der Bundespräsident hat dies unverzüglich zu tun; in der Praxis bedeutet das, dass der formale Akt der Enthebung bereits wenige Stunden nach dem Misstrauensvotum zu erfolgen hat.

Ein Schlupfloch

So weit muss es am Montag freilich nicht kommen. Die Bundesverfassung sowie die Geschäftsordnung des Nationalrates lassen ein Schlupfloch offen: Wenn es ein Fünftel der Mitglieder des Nationalrates verlangt – sprich: die ÖVP-Fraktion im Nationalrat –, dann ist die Abstimmung über den Antrag auf den zweitnächsten Werktag zu vertagen. Dann wird also erst am Mittwoch, dem 29. Mai 2019, abgestimmt.

Dies bedeutet aber auch, dass Sebastian Kurz als amtierender Bundeskanzler am Dienstag am Europäischen Rat der Staats- und Regierungschef teilnehmen darf – laut offizieller Homepage ein "informelles Abendessen" –, bei dem angeblich bereits wichtige (Personal-)Beschlüsse getroffen werden sollen. Österreich wäre also dort durch den Regierungschef vertreten. Dass dieser – wie auch jeder allfällige andere Vertreter Österreichs – im Kreise seiner Kollegen gehörigen Erklärungsbedarf über die Geschehnisse in Österreich haben wird, ist eine andere Geschichte.

Szenario 2 Kommt es am Montag doch zum Showdown, dann ist Kurz als Bundeskanzler nicht zwingend sofort Geschichte. Der Bundespräsident könnte ihn gemäß der Bundesverfassung unmittelbar nach seiner Enthebung "Zug um Zug" zum einstweiligen Bundeskanzler ernennen. Dass dem ein Misstrauensvotum gegen den Bundeskanzler vorangegangen ist, macht nach der Bundesverfassung eine solche Ernennung nicht unmöglich. Der Bundespräsident kann über die Ernennung von Kurz zum einstweiligen Bundeskanzler frei entscheiden; freilich ist eine solche nur dann möglich, wenn Kurz zustimmt. Kommt es dazu, wäre also Österreich auch in diesem Fall am Dienstag im Europäischen Rat durch den Regierungschef vertreten, wenngleich nur mehr durch den "einstweiligen".

Szenario 3 Will der Bundespräsident aus "optisch-politischen" Gründen Kurz nicht zum einstweiligen Bundeskanzler ernennen oder verweigert sich Letzterer dieser Funktion, dann entsteht kein verfassungsrechtliches "Loch", sondern es "übernimmt" interimistisch Vizekanzler Hartwig Löger. Dann vertritt dieser Österreich im Europäischen Rat.

Szenario 4 Und schließlich noch eine Variante: Es ist selbstredend nicht verboten, dass der Bundespräsident mit potenziellen Kandidaten für die Nachfolge von Kurz bereits im Vorfeld des angekündigten Misstrauensvotums Gespräche führt. Wir können wohl davon ausgehen, dass es solche Konsultationen tatsächlich gibt. Genannt wurden gewichtige Kandidaten wie der ehemalige EU-Kommissar Franz Fischler oder der ehemalige Bundespräsident Heinz Fischer.

Sollte also am Montag der Bundespräsident in die Verlegenheit kommen, Kurz infolge eines erfolgreichen Misstrauensvotums des Amtes entheben zu müssen, so könnte er gegebenenfalls wenige Stunden darauf dessen Nachfolger ernennen. Diese Person kann er von Verfassung wegen frei bestimmen. Freilich muss der Kandidat zustimmen. Insbesondere muss er damit einverstanden sein, die bisherige Regierungsmannschaft – ein buntes Durcheinander von ÖVP-Ministern, (ehemaligen) Spitzenbeamten und Experten – zu "übernehmen". Der neue Kanzler führt dann die Regierung ("Übergangsregierung") bis zur Neuwahl des Nationalrates. Erster großer Auslandseinsatz: Dienstag der Europäische Rat.

Neue Situation

Es kann aber auch anders kommen. Es könnten nach einem erfolgreichen Misstrauensvotum gegen den Bundeskanzler die übrigen ÖVP-Minister aus Solidarität zurücktreten. Oder aber es erfolgt ein Misstrauensvotum gleich gegen die ganze Regierung. Jede dieser Situationen erfordert dann weitere, andere "Manöver", wäre aber mit den Instrumentarien der Bundesverfassung insgesamt gut bewältigbar.

Fazit: Österreich befindet sich in einer neuen und schwierigen politischen Situation. Die Bundesverfassung enthält ein differenziertes Set an Optionen zur Lösung der Problematik. Eine Verfassungskrise besteht nicht. (Bernd Wieser, 26.5.2019)