Dem Misstrauensantrag gegen Kurz zustimmen oder nicht? Die SPÖ, Parteichefin Rendi-Wagner neben Bundespräsident Van der Bellen, kann nur mehr das kleinere Übel wählen.

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"Es ist nichts Obszönes, wenn (auch) die SPÖ ihr Abstimmungsverhalten im Parlament im wohlerwogenen Eigeninteresse formuliert", so der Zeithistoriker Gerhard Botz im Gastkommentar.

"Möge er in interessanten Zeiten leben!" Diesen chinesischen Fluch zitierend sprach Robert F. Kennedy 1966 vor Studenten in Kapstadt und trug entscheidend dazu bei, dass das Apartheidregime Südafrikas schließlich aufgegeben werden musste und die US-Bürgerrechtsbewegung gestärkt wurde. Könnte die heimische Sozialdemokratie – nach zuletzt "stillen Tagen" nicht in Clichy, sondern in Österreich – von diesem "Fluch", durch die mediale und politische Strache-"Bombe" aufgeweckt werden und die Zeichen der Zeit zu einer positiven Wende nutzen?

Zweifelsohne meinte Kennedy ungewisse und gefährliche Zeiten, wie sie sich schon seit einigen Jahren wieder weltweit abzeichnen, von Trumps USA bis Xi Jinpings China, Putins Russland, Europas Rechtsextremismus und -populismus. Es ist auch in Österreich für Parteien sozialdemokratischer, liberaler oder grüner Ausrichtung schwieriger geworden, gegen die politische Rechtswende überzeugende Gegenpositionen aufzubauen und wahlpolitische Erfolge einzufahren oder wenigstens vorzubereiten.

Rote Selbstfindung

Anders als den Neos ist es der SPÖ auch unter ihrer neuen Vorsitzenden Pamela Rendi-Wagner immer noch nicht ganz gelungen, die inneren flüchtlings-, sach- und personalpolitischen Spaltungen zu überwinden und eine politische Selbstfindung intern durchzusetzen. So blieb eine sachpolitisch "linke" Profilierung etwa in den Sektoren interessenpolitischer, sozialer, alters- und bildungsmäßiger Sicherungen ein nur ausnahmsweise genutztes Gebot der Stunde.

Die illiberal-neoliberale Koalitionsregierung konnte eine Umpolitisierung des Landes und eine schleichende, dann – vor allem durch Innenminister Herbert Kickl – immer offenere Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und der Sicherheitsapparate vorantreiben, die schließlich auch für größere Teile der ÖVP inakzeptabel wurde. Sebastian Kurz dürfte das Totaldesaster der FPÖ-Spitze in den Ibiza-Videos letztlich entgegengekommen sein, um sich nach einigem Hin und Her aus den Strangulationen durch seinen rechtsextremen Koalitionspartner zu lösen.

Kooperation und Gemeinschaftsgeist

Alexander Van der Bellen wurde zwar "arschknapp" (© Van der Bellen) von einem relativ breiten informellen Wählerbündnis ins Bundespräsidentenamt gebracht. Aber er hat qua seines Amtes das Recht, vielleicht die Pflicht, nicht nur Rechtsstaatlichkeit, sondern auch Kooperationsbereitschaft der politischen Kontrahenten einzumahnen. Das könnte zu einer Beruhigung des stark angespannten innenpolitischen Klimas, das pikanterweise gerade durch die alte Regierung aufgeheizt worden war, beitragen. Dazu hat er an die "staatspolitische Verantwortung" aller politischen Akteure appelliert und versucht, dies den – auch bisher rechtsstaatlich-demokratisch agierenden – Parteien ins Stammbuch der kommenden neuen Regierung zu schreiben.

Aber kann diese Beschwörung eines Gemeinschaftsgeistes nicht zu einer Verhunzung der "Schönheit der Verfassung" (© Van der Bellen) Hans Kelsens führen? Denn dieser große Verfassungsrechtler hatte vor allem einen rechtlich geregelten parlamentarischen Wettkampf der Parteien um die Mehrheit im Auge gehabt. Im Vordergrund standen für ihn nicht unbedingt Koalitionsbildungen, Verbändedemokratie und Sozialpartnerschaft.

Das kleinere Übel

Nun von politischen Parteien generell und immer zu verlangen, sie müssten immer "gesamthaft" denken und agieren, übersieht, dass sich ihr Begriff von "Teil" herleitet. In politischen Systemen leiten sich ihre hauptsächlichen Funktionen aus der Vertretung der Interessen ihrer Anhängerschaften, Machtgruppierungen und emotionellen Gemeinschaften ab. Wenn sie sich radikal und praktisch total nicht mehr auf spezifische Segmente in einer Gesellschaft / im Staat beziehen, führen sie ihren Parteicharakter ad absurdum; sie werden zu "Einheitsparteien" und Imitationen des "gesamten Volkes", ob kommunistischer, faschistischer oder sonstiger diktatorischer Prägungen.

Als parteipolitisch außenstehender Sympathisant kann man daher den Schluss ziehen, dass es nichts Obszönes ist, wenn (auch) die SPÖ ihr Abstimmungsverhalten im Parlament im wohlerwogenen Eigeninteresse formuliert. Um aus dem Schlamassel, in das sich diese Partei in einer für sie scheinbar günstigen Ausgangssituation gebracht hat, herauszukommen, kann sie nur mehr das kleinere Übel wählen: entweder zu zögern und ein Misstrauensvotum gegen Kurz als Kanzler zu vermeiden oder entschlossen ins kalte Wasser eines solchen eventuell mit der FPÖ herbeigeführten Parlamentsbeschlusses zu springen.

Demokratie funktioniert

Im ersten Fall wird ihrer Parteiführung und der ganzen Partei das Image von Unentschlossenheit und fehlender Leadership anhaften bleiben, im zweiten Fall wird man ihr ankreiden, dass sie (wieder) mit der FPÖ eine Abstimmungsgemeinschaft eingegangen ist. Dieses Übel könnte sie nur verringern, wenn eine solche Kooperation mit der FPÖ weiterhin ausgeschlossen wird. Eine "Staatskrise" der Republik mit ihren noch intakten rechtsstaatlichen und medialen Strukturen, wie sich gerade in der vergangenen Woche gezeigt hat, kann allein daraus nicht hervorgehen. Das Positive an den "interessanten Zeiten": Es zeigt sich, dass die Demokratie in der Zweiten Republik – trotz solcher Herausforderungen – (noch) funktioniert.

Das innenpolitische Porzellan ist – für die nächste Zukunft – ohnehin so sehr zerschlagen, dass auch eine nach den nächsten Nationalratswahlen eventuell zu diskutierende ÖVP-SPÖ-Koalition fast ausgeschlossen ist. Da finden eher wieder FPÖ und ÖVP zusammen wie schon 2002 unter Schüssel-Haider. (Gerhard Botz, 27.5.2019)