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So viel Europa war schon lange nicht mehr. Oder – im Gesamten gesehen – überhaupt noch nie. Zum ersten Mal seit der großen EU-Erweiterung 2004 ging die Wahlbeteiligung wieder deutlich in die Höhe, von 42 auf 50 Prozent. Eine Trendumkehr. Das Gemeinsame regt Europa auf: im Positiven wie im Negativen.

Es war schon recht früh klar an diesem denkwürdigen EU-Wahlabend, was es politisch in Europa geschlagen hat: Die christ- und sozialdemokratischen Volksparteien bauen insgesamt weiter ab. Sehr stark sogar. In den Schlüsselländern Frankreich und Deutschland etwa. Oder in Italien. Die beiden müssen sich dringend etwas einfallen lassen und dürfen nicht nur auf ihre traditionellen Konzepte als "proeuropäische Baumeister" Europas setzen: Dieses Europa, wie wir es bisher kannten, ist zu Ende.

Da die großkoalitionäre schwarz-rote Mehrheit verlorengegangen ist, sind EVP und S&D nun auf mindestens einen weiteren Koalitionspartner angewiesen – oder sogar auf zwei. Das ist das zentrale Ergebnis der Europawahlen 2019. Im Parlament in Straßburg wird es nun noch "bunter". Gut 150 Einzelparteien aus 28 Ländern (mit UK) werden vertreten sein, die Koalitionsbildungen und Mehrheiten werden noch komplizierter.

Die Zukunftsthemen – Klima, Energie, Bildung, Jugend, Soziales –, die vor allem von den Liberalen und Grünen gepusht wurden, gewinnen deutlich an Gewicht. Das ergibt sich aus den neuen Mehrheitsverhältnissen zwingend.

Italien stärkt Rechte

Auf der einen Seite stagnieren die EU-skeptischen Rechtsparteien. Die extrem Rechten verzeichnen zwar einen leichten Aufschwung, aber nur wegen des Sonderfalls Italien, der Lega unter Matteo Salvini. Die FPÖ verlor, die Partei von Geert Wilders, dem Islamhasser in den Niederlanden, stürzte ab. Marine Le Pen blieb auf Platz eins, wie 2014, aber ohne Zugewinn. Politisch wird deren Fraktion weiter isoliert bleiben.

Auf der anderen Seite gaben die Liberalen und auch die Grünen ein kräftiges Lebenszeichen – die Ökos in Deutschland, Frankreich und Österreich ganz besonders. Das wird die Arbeit in den Ausschüssen wie im Plenum inhaltlich mehr verändern, als sich das auf den ersten Blick in Zahlen ausdrückt.

Wie sich das nun auf die Wahl des künftigen EU-Kommissionspräsidenten auswirken wird, ist noch schwer absehbar. Dank der Unterstützung durch den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der mit den Liberalen programmatisch eine "Renaissance der Europäischen Union" einleiten will, hat SP-Spitzenkandidat Frans Timmermans deutlich bessere Chancen als zuvor. Die "Regenbogenkoa lition" kommt knapp an die Mehrheit im Parlament heran.

Sein EVP-Kontrahent und Favorit Manfred Weber hat im Vergleich weniger Kombattanten – im Parlament wie im Rat der Regierungschefs. Aber die Spielchen um die EU-Spitzenposten werden erst später beginnen. Der EU-Gipfel am Dienstag wird ein erstes Vorfühlen sein, aber keine Entscheidungen bringen. Umso mehr muss jetzt um die künftige inhaltliche Linie der Kommission gerungen werden.

Aber: Zu beneiden ist die nächste EU-Kommission keineswegs. Sie erbt den ungelösten Brexit. Solange der EU-Austritt der Briten nicht geklärt ist, wird es schwer sein, den künftigen EU-Budgetrahmen oder auch substanzielle interne EU-Reformen konkret anzugehen. (Thomas Mayer, 26.5.2019)