Wien – Der Genossin vor der SPÖ-Zentrale in der Wiener Löwelstraße ist die Verzweiflung anzusehen: "Was muss noch alles passieren, damit die Leute einmal draufkommen?" Gemeint ist das passable Abschneiden der Freiheitlichen – trotz Ibiza-Gate. Und das bescheidene Abschneiden der SPÖ – trotz Ibiza-Gate.

DER STANDARD

Aus dem von den roten Parteistrategen erhofften Kopf-an-Kopf-Duell mit der Volkspartei ist am Sonntag nichts geworden. Es war nicht einmal ansatzweise knapp. Nur eine Woche nachdem Kanzler Sebastian Kurz die Koalition mit der FPÖ aufgekündigt hatte, fuhr die Volkspartei das beste Ergebnis einer Partei bei EU-Wahlen ein.

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Größter Abstand

Laut einer Sora-Hochrechnung inklusive Wahlkarten (das endgültige Ergebnis wird erst am Montag vorliegen) liegen die Türkisen mit 34,9 Prozent mehr als zehn Prozentpunkte vor den Roten, die nur auf 23,4 Prozent kamen. Es handelt sich um den größten Abstand, den die ÖVP jemals bei einer EU- oder Nationalratswahl auf den Zweiten hatte. "Vielen, vielen Dank", wiederholte Kurz gefühlte zehn Mal bei seiner Dankesrede in der Parteizentrale in der Wiener Lichtenfelsgasse.

Der letzte Schub

Im Angesicht des Triumphes war auch nichts mehr von unterschiedlichen Lagern innerhalb der ÖVP zu sehen, die sich in den vergangenen Wochen gezeigt hatten, Stichwort "Regelungswahn". ÖVP-Spitzenkandidat Othmar Karas, wahrlich kein Freund von EU-kritischen Tönen, wie sie von Kurz und der Listenzweiten Karoline Edtstadler zu hören waren, bedankte sich beim Parteichef für den "Schub", den dieser noch gebracht habe. Zusatz: "Niemand soll glauben, dass er allein eine Wahl gewinnen kann."

Am Wahlsonntag passte kein Blatt zwischen Kanzler Kurz und Spitzenkandidat Karas.
Foto: novotny

Die bisherige Rekordmarke bei EU-Wahlen wurde mit 33,33 Prozent von der SPÖ im Jahr 2004 erzielt. Sie profitierte damals von den Turbulenzen bei den Freiheitlichen, die vor der Parteispaltung standen und auf das bisher schlechteste Ergebnis von 6,3 Prozent abstürzten.

Türkise Profiteure

Jetzt, 15 Jahre später, sind die Türkisen die Profiteure der blauen Turbulenzen. Im Gegensatz zur Post-Knittelfeld-Ära halten sich die Einbußen bei der FPÖ dieses Mal allerdings in Grenzen. Laut der letzten Hochrechnung vom späten Sonntagabend verloren sie im Vergleich zur Wahl 2014 2,5 Prozentpunkte auf 17,2 Prozent.

Der Wählerabfluss infolge des Ibiza-Videos, auf dem Ex-Parteichef Heinz-Christian Strache und Ex-Klubchef Johann Gudenus Staatsaufträge im Gegenzug für Parteispenden an eine vermeintliche russische Oligarchennichte in Aussicht stellen, war aber natürlich deutlich größer. Zur Erinnerung: In den meisten Umfragen, die noch vor der Koalitionskrise durchgeführt wurden, lag die FPÖ bei 23 bis 25 Prozent.

"Sensation nach heimtückischem Manöver"

Der blaue Spitzenkandidat Harald Vilimsky sprach dennoch von einer "Sensation nach so einem heimtückischen Manöver". Es zeige sich, wie "hoch unser Stammwähleranteil ist". Was jetzt folge? "Ab heute beginnt die größte Wählerrückholaktion, die dieses Land je gesehen hat." Auch der designierte Parteichef Norbert Hofer gab sich bereits kämpferisch: "Auf Basis dieses Wahlergebnisses werden wir bei der Nationalratswahl viele, viele Prozentpunkte zulegen können."

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Nach der ÖVP waren die Grünen die zweite große Überraschung des Wahlabends. Die Partei, die nach internen Streitereien und der Abspaltung der Liste Pilz bei der Nationalratswahl 2017 noch am Einzug gescheitert war, konnte mit 14 Prozent ihr EU-Ergebnis von 2014 fast halten. Sollte der Brexit eines Tages tatsächlich über die Bühne gehen, dürften die Grünen sogar ein drittes Mandat bekommen.

Für die Sozialdemokraten brachte der Sonntag hingegen die große Ernüchterung. Sie konnten weder vom Bruch der Koalition noch vom Zickzackkurs der ÖVP im Lauf des Europawahlkampfs profitieren. Sie fuhren das bisher schlechteste Ergebnis bei bundesweiten Wahlen ein. In Wien konnten die Roten hingegen deutlich zulegen (um 2,6 Prozentpunkte), dort waren auch die Verluste der FPÖ größer als im Bundesschnitt. In Parteikreisen wurde am Sonntag nicht ausgeschlossen, dass nun wieder eine Debatte darüber ausbricht, ob Parteichefin Pamela Rendi-Wagner die Richtige ist. Zur Disposition dürfte jedenfalls Bundesgeschäftsführer Thomas Drozda stehen.

Das Lachen ging niemandem verloren. Werner Kogler war überraschend stark, Andreas Schieder weniger, Othmar Karas war die klare Nummer eins, Claudia Gamon hielt das pinke Ergebnis, und Harald Vilimsky durfte sich über Schadensbegrenzung freuen.
Foto: newald

Pinke Stagnation

Auf dem Stand treten auch die Neos, die zwar einen sehr pointierten Wahlkampf geführt haben (EU-Armee, Vereinigte Staaten von Europa), damit ihr Wählerreservoir aber nicht erweitern konnten.

Der Politikwissenschafter Reinhard Heinisch analysierte im Gespräch mit dem STANDARD: Es habe sehr wohl einen Ibiza-Effekt gegeben. "Die ÖVP konnte sich erfolgreich als Opfer der Regierungskrise präsentieren. Gerade gegen Ende des Wahlkampfes hat man stark auf Kurz gesetzt, der dann auch noch plakatiert wurde. Das hat funktioniert."

Das maue Abschneiden der SPÖ lasse sich womöglich auf die Schwäche der Partei im Umgang mit der Ibiza-Affäre zurückführen – Parteichefin Pamela Rendi-Wagner konnte die türkis-blaue Krise offenbar kaum für sich nutzen. Hinzu komme, meint Heinisch, dass viele Wähler das Zögern bezüglich des Misstrauensantrags abgeschreckt haben könnte. Erst am späten Sonntagabend legte sich die SPÖ auf einen Misstrauensantrag gegen die gesamte Regierung fest. (Günther Oswald, Katharina Mittelstaedt, Nina Weißensteiner, 27.5.2019)