"Die Zeit arbeitet für uns, denn oft wächst sich die Spielesucht mit den Jahren auch aus", sagt der Psychiater Roland Mader.

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STANDARD: Die WHO hat vergangenes Wochenende die Onlinespielesucht in den Katalog der psychischen Erkrankungen aufgenommen. Sind Sie froh darüber?

Mader: Ja, es ist eine gute Nachricht in vielerlei Hinsicht, vor allem für Betroffene selbst, weil ihr Zustand nicht mehr als Willensschwäche abgetan werden kann. Und es bringt auch eine wichtige Awareness. Kinder und Jugendliche mit Online-Gaming-Disorder werden immer zahlreicher. Wir hoffen, dass endlich darauf reagiert wird und entsprechend mehr Behandlungseinrichtungen geschaffen werden. Wir behandeln Online-Gaming-Süchtige schon seit vielen Jahren, ein Ausbau des Behandlungsangebots ist aber notwendig.

STANDARD: Jedes Jahr kommen über 3.000 Spiele auf den Markt. Wie behalten Sie den Überblick?

Mader: Erstaunlicherweise sind es im Grunde genommen nur wenige Spiele, auf die Kinder süchtig zu werden scheinen. Es ist "World of Warcraft" als Onlinerollenspiel und Ego-Shooter wie "Counter-Strike", neu dazu kommt "Fortnite", ein sogenanntes Third-Person-Shooting-Spiel. Da schießen die Spieler nicht als "ich", sondern als jemand anderer. Ein weiteres Spiel, auf das vor allem Jüngere reinkippen, ist "Minecraft".

STANDARD: Was verbindet diese Spiele?

Mader: Alle diese Spiele bieten eine riesige virtuelle Fantasiewelt mit scheinbar unerschöpflichen Möglichkeiten. In diesem riesigen Universum erschaffen sich Spieler eine eigene Identität, es geht immer um den Aufbau der eigenen Stärke. Das ist ein Thema, das in der Pubertät auch im wirklichen Leben aktuell ist. Deshalb spricht es die Jugendlichen besonders an. Spielsüchtige Jugendliche verwechseln ihren Avatar (die von ihnen erzeugte Figur im Spiel, Anm.) mit ihrem Ich.

STANDARD: Und was passiert dann?

Mader: Jugendliche, die spielsüchtig sind, ziehen sich aus dem wirklichen Leben zurück. Bleiben in ihrem Kinderzimmer vor dem Bildschirm, kommen quasi gar nicht mehr raus und vernachlässigen Familie und Freunde. Oft sind es auch die schlechten Noten in der Schule, die das Problem sichtbar machen. Betroffene spielen nicht selten nächtelang durch, sind tagsüber müde und schaffen es in der Früh nicht aus dem Bett.

STANDARD: Es wirkt sich also auch auf das Sozialverhalten aus?

Mader: Wer stundenlang online ist, verarmt in seiner sozialen Kompetenz. Obwohl die Betroffenen das selbst nicht so sehen. Sie fühlen sich nicht isoliert. Denn die Spiele vermitteln neben dem Gefühl der Stärke auch Gruppenzugehörigkeit. So gut wie in allen Spielen geht es darum, sich mit anderen zusammenzuschließen, gemeinsam etwas zu machen und dadurch eine Art Gemeinschaftserlebnis aufzubauen. Je mehr Zeit man im Spiel verbringt, umso besser ist man. Das ist das Perfide.

STANDARD: Wann merken die Jugendlichen, dass sie ein Suchtproblem haben?

Mader: Die meisten haben sehr lange keine Krankheitseinsicht, denn sie fühlen sich in der virtuellen Welt besser als in der Realität. Meistens sind es die Eltern, die verzweifelt sind und zu uns kommen.

STANDARD: Was ist aus Sicht eines Psychiaters, rein zeitlich betrachtet, ein problematisches Nutzungsverhalten?

Mader: An der Zeit ist es schwer festzumachen, zudem spielt auch das Alter eine Rolle. Also zehn Stunden pro Tag online: Das ist ein starker Hinweis, dass etwas nicht stimmt. Aber unserer Erfahrung nach ist es schon so, dass Jugendliche nicht selten vier bis fünf Stunden pro Tag mit Online-Games beschäftigt sein können. Solange sie daneben soziale Kontakte pflegen und am Alltag teilhaben, kann das auch in Ordnung sein. Generell gilt: je jünger, umso kürzer sollten die Onlinezeiten sein. Und wenn die Kinder noch jung sind, kann man sich auch noch zeitliche Begrenzungsregelungen ausmachen. Ab einem gewissen Alter ist das dann einfach nicht mehr möglich.

STANDARD: Und was, wenn Eltern einfach das Internet abdrehen?

Mader: Das halten wir nicht für sinnvoll. Unsere Strategie ist es gerade, mit den Kindern in Kontakt zu bleiben, sich mit ihnen hinzusetzen, an der virtuellen Welt teilzuhaben und sie nicht durch Verbote noch mehr zu isolieren. Denn das Alleinsein beim Spielen ist ja gerade ein Merkmal der Sucht.

STANDARD: Was passiert bei Online-Games eigentlich im Gehirn?

Mader: Es werden Hormone ausgeschüttet, die glücklich machen. Vor allem Dopamin, das bei allen Suchterkrankungen eine wichtige Rolle spielt, aber auch Adrenalin und Endorphine werden bei virtuellen Erfolgserlebnissen freigesetzt. Genauso wie in der Realität.

STANDARD: Warum genau ist das Onlinegaming eigentlich besorgniserregend? Was passiert, wenn man den Dingen ihren Lauf lässt?

Mader: Jugendliche verpassen in einer sehr sensiblen Zeit ihres Lebens das soziale Lernen, das das Zusammenleben mit anderen möglich macht. Die virtuelle Realität ist sehr stark reduziert, alles ist viel kürzer, direkter und aggressiver als in Wirklichkeit.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Mader: Gefühle werden in der virtuellen Welt fast immer nur mit Emojis ausgedrückt. Das ist viel zu einfach und hat mit der Komplexität wirklicher Gefühle nichts zu tun. Und gerade die gilt es in dieser Lebensphase ja gerade zu erlernen. Die Mimik und Gestik anderer Menschen lesen, Gesichtsausdrücke deuten und entsprechend reagieren, sich selbst präsentieren, seine Rolle in einer Gruppe finden, Augenkontakt suchen und halten oder ein Gespräch führen – all das ist soziales Lernen, das in der virtuellen Welt nicht stattfindet.

STANDARD: Und wie sieht dann eine Therapie aus?

Mader: Wir setzen auf Gruppentherapien, denn in diesem Rahmen können sich betroffene Jugendliche am leichtesten öffnen. Sie sind nicht alleine, können sich mit anderen austauschen, denen es genauso geht. Und es ist eine Gruppe in der wirklichen Welt. Abgesehen davon setzen wir stark auf Aktivitäten und echtes Miteinander.

STANDARD: Und langfristig? Dürfen diese Jugendlichen nie wieder spielen?

Mader: Abstinenz als Behandlungsziel ist nicht möglich, denn digitale Medien sind ein Teil unserer Welt. Wir arbeiten nach dem Ampelprinzip. Wer einmal spielsüchtig war, sollte das entsprechende Spiel am besten komplett meiden, kann dafür aber andere Sachen nutzen, die sich dann in der gelben Zone befinden, allerdings zum Beispiel zeitlich begrenzt sind oder nur mit Begleitung, nicht allein genutzt werden sollten. Und dann gibt es die grüne Zone, also unbedenkliche Anwendungen wie Internet oder E-Mail. Ziel ist, dass Jugendliche eine für sie passende Medienkompetenz erlernen.

STANDARD: Kommt es zu Rückfällen?

Mader: Dazu haben wir noch kaum Daten. Wir sehen aber, dass wir mit unserem Therapieprinzip bei jungen Gamern sehr gute Erfolge haben. Die Zeit arbeitet für uns, denn oft wächst sich die Spielesucht mit den Jahren auch aus. Was wir auch sehen: Spielesucht geht nicht selten mit anderen Erkrankung einher – etwa Angststörungen oder Depressionen. Das beeinflusst sich mit der Spielesucht, steht in Wechselwirkung und muss auch getrennt behandelt werden.

STANDARD: Gibt es auch erwachsene Gaming-Süchtige?

Mader: Spielesüchtige jenseits des 40. Lebensjahrs sehen wir selten, da ist dann eher die Onlinepornosucht ein Thema. Für Mädchen und Frauen sind die sozialen Medien gefährlich, wenn es um Sucht geht. Für Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen. (Karin Pollack, 1.6.2019)